Den Partner oder die Partnerin fürs Leben zu finden, gilt in unserer Gesellschaft als das Nonplusultra. Aber ist das heutzutage überhaupt noch realistisch? Wieso legen wir so viel Wert auf romantische Bindungen, während unsere anderen Beziehungen hintenüberfallen? Soziologin und Intimitätsforscherin Dr. Andrea Newerla findet: Wir müssen neue Prioritäten setzen.
"Ich bin in einer Beziehung." Sagt jemand diesen Satz, wird in unseren Köpfen ein bestimmtes Bild gemalt: das eines Liebespaares. Irgendwie interessant, denn eigentlich kann das Wort "Beziehung" ja so vieles bedeuten. Es gibt freundschaftliche Beziehungen, Beziehungen, die nur auf Sex basieren, familiäre Beziehungen, polyamouröse Beziehungen… Trotzdem sind wir so gepolt, dass uns nur diese eine Art, zu lieben, in den Sinn kommt.
Warum ist das so? Damit beschäftigt sich Soziologin Dr. Andrea Newerla in ihrem neuen Buch "Das Ende des Romantikdiktats – Warum wir Nähe, Beziehungen und Liebe neu denken sollten" (Kösel, 20 €). Mit uns sprach die Autorin darüber, warum romantische Paarbeziehungen nicht mehr zeitgemäß sind – oder warum wir unsere Obsession mit ihnen zumindest überdenken sollten.
EMOTION: Der Titel deines Buches ist "Das Ende des Romantikdiktats". Was meinst du mit Romantikdiktat?
Andrea Newerla: Wir wachsen in einer heteronormativen Kultur und Gesellschaft auf. Seit wir klein sind, werden wir beschallt von diesen romantischen Erzählungen, von Märchen über Disney bis hin zu Hollywood und Bollywood. Es sind immer die gleichen Geschichten: über die romantische Paarliebe. Diese Norm ist schon über 250 Jahre alt.
Wieso ist das problematisch?
Wenn man dieser Norm nicht entspricht, keinen Partner oder keine Partnerin fürs Leben findet, dann gilt man als gescheitert oder unfähig. Dabei gibt es ja Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen gar nicht romantisch lieben wollen oder andere Beziehungsformen bevorzugen. All diese Menschen, die versuchen, jenseits dieses romantischen Skripts Beziehungen zu konstituieren, haben damit Schwierigkeiten, weil sie sich an nichts orientieren können.
Müssen wir die romantische Paarbeziehung jetzt verteufeln?
Nein, natürlich nicht. Wir sind alle mit dieser Vorstellung aufgewachsen und sie klingt ja auch erst mal verlockend. Aber wir müssen uns die Realität vor Augen führen: Die Praxis und die Empirie zeigen, dass das Modell des für immer zusammenbleibenden Liebespaars nicht mehr funktioniert.
Wieso ist das so?
Dafür gibt es viele Gründe. Unter anderem liegt es daran, dass die Kirche an Wirkmächtigkeit verloren hat. "Bis dass der Tod uns scheidet" wurde bei der Eheschließung früher sehr ernst genommen. Heutzutage haben wir viel mehr gesellschaftliche Freiheiten, Selbstverwirklichung steht im Fokus. Viele sind nicht mehr dazu bereit, die eigenen Bedürfnisse für den Partner oder die Partnerin hintenanzustellen. Das war ja auch zum großen Teil ein Geschlechterverhältnisproblem, dass Frauen eher zurückgesteckt haben, während es Männern zugestanden wurde, ihre Träume zu verfolgen. Das hat sich zum Glück verändert.
Laut einer Studie sind Männer heute einsamer als je zuvor. Man vermutet, dass sie nicht mit den steigenden Erwartungen der Frauen zurechtkommen. Wieso tun sich Männer so schwer, sich an diese Veränderungen anzupassen?
Ich vermute, das liegt daran, dass Männer nicht so gelernt haben, Sozialität zu pflegen, wie Frauen es gelernt haben. Das mussten Frauen aber auch, weil sie laut gesellschaftlicher Vorstellungen dafür zuständig waren, die Care-Arbeit zu übernehmen. Männer sind nicht so geübt darin, Kontakte zu pflegen.
Sind wir durch all diese Veränderungen generell einsamer als früher?
Es ist toll und wichtig, dass wir jetzt diese Freiheiten haben, aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir existenziell auf andere Menschen angewiesen sind. Das haben wahrscheinlich viele während der Pandemie gemerkt. Deswegen ist es wichtig, zu überdenken, wie wir lieben und nicht alle Hoffnungen in die romantische Zweierbeziehung stecken.
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Was können wir, jede:r einzelne von uns, tun, um den Druck von der Paarliebe zu nehmen? Um andere Beziehungsformen zu normalisieren?
Intimität findet zwar meistens nicht in der Öffentlichkeit statt, ist aber etwas Öffentliches. Was wir in unseren Schlafzimmern, an unseren Küchentischen machen, ist gesellschaftlich. Wir reproduzieren in diesen privaten Räumen ganz viel von dem, was wir gesellschaftlich gelernt haben. Insofern ist es wichtig, auch dort über Intimität, die Art, wie wir lieben, zu sprechen, sich auszutauschen. Und natürlich ist Sprache auch immer ein guter Anfang. Wenn jemand von einer Beziehung spricht, dann könnte man einfach mal nachfragen, um was für eine Art von Beziehung es sich überhaupt handelt, statt wie selbstverständlich davon auszugehen, dass eine Paarbeziehung gemeint ist.
Woher weiß ich denn, ob ich wirklich eine romantische Paarbeziehung möchte oder ob ich von gesellschaftlichen Vorstellungen geleitet werde?
Ich glaube, das kann man nur herausfinden, indem man sich den Raum gibt, zu experimentieren. Bestes Beispiel: Für das Buch habe ich mit einer Frau gesprochen, die in ihren Zwanzigern romantisch verpartnert war. Als sie Anfang 30 war, gab es einen Bruch, woraufhin sie angefangen hat, Dating-Apps auszuprobieren. Beim Swipen stieß sie auf jemanden, der in seinem Profil stehen hatte, er sei Beziehungsanarchist. Er führt zwischenmenschliche Beziehungen also nur auf der Basis individueller Wünsche anstatt sich von feststehenden Normen leiten zu lassen. Sie war neugierig und traf sich mit ihm. Letztendlich sind sie getrennte Wege gegangen, weil sie unterschiedliche Bedürfnisse hatten. Aber im Gespräch mit mir hat sie erzählt, dass sie durch diese Erfahrung unglaublich viel über sich selbst herausgefunden hat. Sie hat daraufhin viele unterschiedliche Formen von Intimität ausprobiert und ist letztendlich zum Schluss gekommen: "Das war alles sehr schön, aber ich möchte doch eine romantische Paarbeziehung." Sie wusste aber viel klarer, wieso sie das möchte und wieso dieses Beziehungsmodell braucht.
Wie bewertest du Dating-Apps? Sind sie in diesem Selbstfindungsprozess hilfreich oder eher hinderlich?
Was mich stört, ist, dass in der Debatte um Dating-Apps gerade die negativen Aspekte so im Fokus liegen. Die gibt's, keine Frage. Aber gleichzeitig liegt da auch so viel Potenzial. Neue Räume, die entstehen, Beziehungsformen, die es ohne Dating-Apps vielleicht gar nicht gegeben hätte. Sie ermöglichen Vielfalt. Das Phänomen ist allerdings noch relativ neu, weswegen sich noch keine Begegnungsetikette entwickelt hat, wie wir sie aus anderen sozialen Räumen kennen. Aber das kommt auch noch mit der Zeit.
Das Resultat von diesen vielen Möglichkeiten, die durch Dating-Apps und durch neue Freiräume entstehen, sind sogenannte Situationships, Beziehungen, die nicht genau definiert und von Ungewissheit geprägt sind. Dating ohne Labels hört sich auf dem Papier erst mal befreiend an, aber was, wenn man diese Labels, eine Einordnung braucht?
Zunächst einmal sollten wir uns darüber klar werden, dass wir nie eine hundertprozentige Gewissheit haben werden, selbst wenn wir unsere Beziehung als romantische Paarbeziehung definieren. Wir müssen lernen, mit einem gewissen Grad an Ungewissheit zu leben. Das kann ja auch spannend sein, denn daraus entsteht Raum für Neues. Dass wir uns damit so unwohl fühlen, liegt auch daran, dass so viel Wert auf Liebesbeziehungen gelegt wird: Es muss the one and only sein. Aber vielleicht findet man the one and only auch in anderen Beziehungen, die nicht romantisch sind. Die mir aber trotzdem ein stabiles Fundament geben, dass es mich nicht mehr so sehr erschüttert, wenn die romantische Beziehung wegbricht.
Welche gesellschaftlichen Umstrukturierungen sind nötig, damit all diese verschiedenen Lebensentwürfe und Beziehungsformen gleichberechtigt nebeneinander existieren können?
Es müsste einen Diskurs geben, der durch die komplette Gesellschaft geht. Das Sprechen über Intimitäten – in der Familie, an Stammtischen, im Job – ist ein elementarer Schlüssel. Aber natürlich nützt uns das nichts, wenn es keine strukturellen Rahmenbedingungen gibt, die ermöglichen, dass Menschen auch andere Formen von verbindlichen intimen Beziehungen führen können. Stichwort: Sorgeverantwortung. Ein Anfang wäre das Konzept der Verantwortungsgemeinschaft (Anm. d. Red.: Der Gesetzesentwurf soll ermöglichen, dass auch Menschen in unverheirateten Lebensgemeinschaften rechtlich Verantwortung füreinander übernehmen können). In diesem Modell ist nicht restriktiv vorgegeben, wie viele Menschen diese Gemeinschaft umfasst und wie diese auszusehen hat. Das hat Potenzial, die Zweisamkeit zu sprengen und könnte helfen, neue Strukturen von intimer Verbindlichkeit aufzubauen – jenseits von Blutsverwandtschaft und Ehe.
Was möchtest du mit deinem Buch erreichen?
Ich wünsche mir, dass die Leser:innen nicht immer von ihren Selbstverständlichkeiten ausgehen, sondern anfangen, ihre Intimpraxis infrage zu stellen. Nicht, um alles über den Haufen zu werfen, sondern einfach, damit sie überlegen: Ich mache das schon immer so, aber will ich das überhaupt? Ich sehe große Probleme, gerade im Online-Dating, dass die Menschen nicht miteinander über ihre Bedürfnisse und Wünsche sprechen, aus Angst, andere zu verschrecken. Es heißt so oft: Niemand will sich mehr binden. Ja, vielleicht wollen wir uns heute anders binden. Vielleicht sind nicht mehr romantische Bindungen das Zentrale, auf dem unsere Beziehungswelt basieren sollte, sondern Freundschaften. Das könnte auch die romantische Liebe retten: Wenn sie nicht mehr alles zu sein hat. Wenn sie nicht mehr all unsere Wünsche und Sehnsüchte erfüllen muss. Wenn sie einfach nur die Kirsche auf der Sahne unserer intimen Beziehungen ist.
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