Killt Beziehungsarbeit die Romantik? Nein, sagen berühmte Paartherapeut:innen wie Esther Perel oder John Gottman. Warum Beziehungen nie von selbst laufen – und man sich für die Liebe aktiv entscheiden muss.
Die Liebe – ein Wunder, das einfach so geschieht. Diese Idee wird in Songs, Märchen, Romanen, auf Instagram und in Serien bis heute extrem erfolgreich verkauft. Magie zwischen Liebenden, das Verstehen ohne Worte, gilt vielen als "Goldstandard", als eindeutiger Hinweis auf wahre, große Gefühle. Und wenn das nicht klappt, sind Zweifel angesagt, oder?
Menschen, die sich professionell mit Partnerschaft beschäftigen, sehen das vollkommen anders
Der Berliner Paartherapeut Holger Kuntze hat da eine klare Meinung: "Lieben heißt wollen. Liebe ist Arbeit." Noch drastischer formuliert es Alfred Kinsey, der Altmeister der Sexualforschung: "When it comes to love, we are all in the dark." Einfach klingt anders!
Die US-amerikanische Psychologin Shirley P. Glass spricht sogar vom "Mythos der wartungsfreien Ehe": Wir gäben uns der Vorstellung hin, wenn wir uns nur genug liebten, dann würde schon alles gut sein und bleiben. Dabei deutet alles, was wir aus der Entwicklungspsychologie und aus der Forschung über Paare und Familien wissen, darauf hin, dass es im Lauf der Zeit unweigerlich zu Rissen kommen wird. Konflikte und enttäuschte Erwartungen sind nichts, was vermeidbar wäre. Streit, zumindest konstruktiver, sei kein Scheitern, sondern wichtig für Beziehungen, so die einhellige Meinung der Expert:innen.
Das banale Klein-Klein in Beziehungen
In der Theorie ist uns das meist klar. Dennoch erzählt uns eine innere Stimme oft weiter das alte Love-Story-Märchen, so lange, dass es unbemerkt in unsere Gedanken sickert und unser (unbewusstes) Beziehungsideal prägt. Beobachtet man dann ein glückliches Paar, scheint klar: "Die haben die richtig großen Gefühle." Das banale Klein-Klein, die frustrierende Monotonie, die wir selbst erleben, halten wir dagegen für unser eigenes Problem. In schlechten Tagen macht uns das traurig über unsere Liebe, im schlimmsten Fall halten wir sie für gescheitert.
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Erste Hilfe bei solchen fiesen Einflüsterungen: der geniale (leider nur englischsprachige) Podcast "Where Should We Begin" der belgisch-amerikanischen Paartherapeutin Esther Perel. Da lädt sie uns ein, echten Paaren in einer Therapiesitzung zuzuhören, die intime und komplizierte Details ihrer Konflikte offenbaren. Der Blick in die Paarrealität anderer Menschen kann enorm erhellend sein. Klar wird: Eine flüchtige Sommerliebe oder ein unverbindlicher Flirt im Büro mag bestens ohne persönliche Entwicklung auskommen. Teilt man aber mit einem anderen Menschen das Leben, geht es ohne Reibung und Anstrengung, ohne Wachstumsschmerzen und Reifungsprozesse nicht – und die strengen an und kosten Energie.
Selbstreflexion hilft, seine Beziehung selbst in der Hand zu haben
Arbeit? Mühe? Das klingt jetzt nicht sooo sexy. Man kann es aber auch genau umgekehrt sehen. Es ist ein Geschenk! Denn es bedeutet, dass wir es selbst in der Hand haben (können), wie es mit uns und unseren Liebsten läuft. Statt sich traurig zu trennen ("Hat eben nicht gepasst"), wären wir aus diesem Beziehungsverständnis heraus vielleicht eher bereit, die nötige Detektivarbeit zu leisten und den Kern ungelöster Konflikte zu ergründen und zu klären – anstatt sie in der nächsten Partnerschaft einmal mehr zu wiederholen. Liebe per se als einen temporär anstrengenden (und extrem spannenden) Prozess zu betrachten, hat zudem den Vortel, dass wir nicht vorschnell das Ganze infrage stellen. Diese Akzeptanz kann in manchen Momenten schon die halbe Miete sein. Vielleicht hilft dieser Vergleich: Zweifeln wir an der Sinnhaftigkeit unserer Yoga Class, wenn es anstrengend wird? Doch auch nicht, oder?
Aber was genau bedeutet es eigentlich, "an der Beziehung zu arbeiten"? Die wichtigste Aufgabe scheint erstaunlicherweise gar nicht so viel mit unserem Gegenüber zu tun zu haben, sondern vor allem mit uns selbst: Wer bin ich? Wo sind meine Grenzen? Welche schmerzlichen Erfahrungen, die ich in meinem Leben machen musste, habe ich bis heute nicht verarbeitet? Welche unerfüllten Sehnsüchte trage ich in mir? Welche Glaubenssätze leiten mich? Die Bereitschaft zur Selbsterkundung und die Fähigkeit, die eigenen Gefühle präzise wahrzunehmen und sie auch in schwierigen Momenten regulieren zu können, ist eines der größten Geschenke, das wir unserem Herzensmenschen und unserem Liebesleben machen können.
Wieso alles beim Alten bleibt
Gerade in hakeligen Momenten ist es jedoch extrem verführerisch, sich mit dem Blick auf den anderen abzulenken und damit eigenen Themen elegant aus dem Weg zu gehen: Wenn wir uns über unsere:n Partner:in empören, müssen wir Eigenes nicht anschauen. Ist das Gegenüber schuld, sind wir es nicht. Und wenn der andere sich ändern muss, müssen wir es nicht tun. Was sich im ersten Moment so wunderbar erleichternd anfühlt, hält uns dauerhaft fest im Ungelösten. Mit jedem "Du hast..." drücken wir auf den Repeat-Button in unserem persönlichen Beziehungsfilm, und es bleibt alles beim Alten.
Jeder kennt wohl diese Augenblicke: Man steht da, streitet sich mit dem geliebten Menschen und wünscht sich, der andere möge einlenken, seine Fehler endlich beheben. Weise – oder reif, wie Psycholog:innen es ausdrücken – wäre es, den Blick auf sich selbst zu richten und zu reflektieren: Was ist mein Anteil an diesem Konflikt? Wie kann ich zur Lösung beitragen? Leichter gesagt als getan. In hoch emotionalen Augenblicken die Fähigkeit zur Selbstreflexion zu bewahren, ist eine Kunst, ist harte Arbeit.
Nicht selten fahren wir gerade in solchen Momenten den Sound des Trotzes extra laut hoch: "Warum ich? Warum nicht er/sie? Wieso muss ich immer die ganze Beziehungsarbeit leisten?"
Drei Ideen, die in solchen Momenten helfen, den konstruktiveren Weg einzuschlagen
Erstens: Es hilft nix! Wir können nur uns selbst verändern, niemals den anderen. Wer das als psychologisches Grundgesetz annehmen kann, setzt seine Energie sinnvoller ein. Wenn der andere sich gar nicht rührt, ist das seine Geschichte, seine Entscheidung – aus der wir selbstverständlich unsere Konsequenzen ziehen können und sollten. Zweitens: Selbsterkenntnis pusht immer auch Selbstliebe und -fürsorge. Wenn wir gut über uns Bescheid wissen, können wir besser schützende Grenzen setzen. Denn auch das ist wahr: Es gibt Partner:innen, die nicht beziehungsfähig sind, die nicht zu uns passen. Oder wir nicht zu ihnen. Wer mit sich im Reinen ist, schwierige Gefühle weniger verdrängen oder auf andere projizieren muss, erkennt das frühzeitig und wird automatisch trennungskompetenter, wenn es nötig sein sollte.
Der vielleicht wichtigste Grund, an der Beziehung ernsthaft zu arbeiten: Es ist wahre Liebe! Der amerikanische Psychologe John Gottman, der die Paardynamik so systematisch wie niemand anderes erforscht hat, geht davon aus, dass es vor allem Untreue ist, die Beziehungen zum Scheitern bringt. Gottman meint jedoch gar nicht so sehr Seitensprünge und Affären. "Viel häufiger nimmt sie Formen an, die die Paare gar nicht als Untreue erkennen", schreibt er.
Wer etwa den Job stets über die Beziehung stellt, sei untreu, so Gottman. Egoismus, mangelndes Commitment, der Unwille, über sich und den anderen nachzudenken, destruktive Verhaltensweisen, all das sei Treulosigkeit. Ehebruch, dieses Wort bekommt so eine ganz neue Bedeutung. Es beschreibt vor allem eine beschädigte Bindung, Vertrauen, das porös geworden ist. Umgekehrt erhält der Begriff Treue einen anderen Sinn: Beziehungen realistisch sehen, an sich arbeiten, zuhören, Kommunikation verbessern – mehr Zuneigung geht nicht. Liebe geschieht uns nicht, wir machen sie.
Dieser Artikel erschien zuerst im EMOTION Sonderheft Liebe 02/22.
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