Ein gesellschaftliches Phänomen aus Japan breitet sich aus. Immer mehr Menschen ziehen sich zurück, verlassen nicht mehr das Haus. Hikikomori – die totale soziale Isolation.
Nach etwa über einem Jahr Pandemie in Deutschland sind wir wohl alle Experten in Sachen soziale Isolation geworden – größtenteils allerdings unfreiwillig. Während viele mit Einsamkeit und Langeweile kämpfen, gibt es auch Menschen, die sich ganz bewusst für ein Leben in Abschottung von der Außenwelt entscheiden.
Was ist Hikikomori?
Oft beginnt es mit einigen Tagen, an denen sich die Betroffenen zuhause einschließen. Sie brauchen Zeit für sich, der Lärm der Welt ist ihnen schlicht zu laut. Doch bei Hikikomori bleibt es nicht bei diesen paar Tagen. Über mehrere Monate meist sogar viele Jahre hinweg igeln sie sich schließlich zuhause ein und schotten sich von der Außenwelt ab. Soziale Kontakte werden auf ein Minimum beschränkt und gehen in der Regel nicht über Chats im Internet hinaus.
Die japanische Sozialphobie breitet sich aus
Der japanische Begriff Hikikomori bezeichnet sowohl die Person als auch das Phänomen. Betroffen sind nicht selten heranwachsende Männer. Sie ziehen sich oft in ihr Elternhaus zurück, Mutter und Vater müssen die Fürsorge für ihre vereinsamten Kinder übernehmen.
Doch die Hikikomori werden immer älter, das Phänomen verbreitet sich. Offiziellen Umfragen zufolge sind es in Japan mittlerweile fast 1,2 Millionen Einsiedler, mindestens 100.000 von Ihnen leben schon länger als 20 Jahre in ihrer selbst gewählten Isolationshaft. Und selbstverständlich werden auch ihre Eltern immer älter, zum Teil sogar selber pflegebedürftig. Eine Doppelbelastung, die für Japan zu einem richtigen Problem werden kann. Erst kürzlich wurde ein 51-jähriger Hikikomori zum Attentäter, weil seine Eltern eine Pflegekraft nach Hause bestellten wollten. Ein Mann, der eigentlich als friedlich galt, so wie die meisten.
Soziale Isolation als Folge psychischer Krankheiten
Das Syndrom ist bislang nicht offiziell als eine psychische Erkrankung anerkannt. Allerdings zeigen aktuelle Studien aus Barcelona und Japan, dass das Phänomen häufig von Krankheiten wie Depressionen, Panik- und Persönlichkeitsstörungen begleitet wird. Dabei ist aber ungeklärt, ob die Abgeschiedenheit die Krankheiten verursacht oder ob es die Krankheiten sind, die die Betroffenen zum Einschluss verleiten. In jedem Fall schlägt sich der psychische Zustand der Hikikomori in einem deutlich erhöhten Suizidrisiko wieder, wie Roseline Yong und Kyoko Nomura von der Akita University in Japan in einer Studie bewiesen.
Es wird vermutet, dass es sich um ein kulturgebundenes Syndrom handelt, das sich stetig in andere Teile der Welt ausbreitet. Die Globalisierung, der Leistungsdruck – die Anforderungen der modernen Welt sind für viele Menschen schwer zu ertragen. Manche Theorien geben dem technologischen Fortschritt die Schuld, andere wiederum suchen die Schuld im zwischenmenschlichen Miteinander. Fest steht: Es ist vor allem die Furcht vor der eigenen Unzulänglichkeit, die den Graben zwischen Betroffene und ihre Außenwelt schafft.
Kommt Hikikomori auch zu uns?
Auch in Deutschland gibt es Menschen, die eine derartige Furcht vor dem Kontakt zu anderen haben, meist aus Angst sich zu blamieren. Der japanische Begriff ist dabei allerdings nicht ganz so geläufig. Stattdessen wird in Deutschland Sozialphobie attestiert. Jeder 8. Jugendliche gilt als sozialphobisch, auch wenn die Ausprägungen zumeist nicht so tiefschürfend sind wie bei japanischen Hikikomori. Doch auch hier in Deutschland gilt: Wer schon das Kennenlernen neuer Menschen oder die alltäglichen Dinge in der Öffentlichkeit scheut, für den ist der Schritt in die selbstgewählte Isolation meist nicht weit.
Ein Spiegel der Gesellschaft? Oder ein temporäres Phänomen?
Europa, Amerika, Australien – überall in der westlichen Welt häufen sich die Fälle. So viele wie in Japan sind es allerdings bislang noch nirgends. Dass die Zahl der Betroffenen hier so exorbitant hoch ist, liegt vielleicht an dem besonders starren Arbeitsmarkt Japans, so vermuten zumindest Experten. Junge Menschen erhalten hier in der Regel nur ein einziges Mal im Leben die Chance auf einen guten Job – direkt nach dem Uniabschluss. Wer diese Chance verpasst, fühlt sich schnell abgehängt.
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Mittlerweile ist Japans Regierung alarmiert. Neben diversen NGO’s, die sich gezielt an Betroffene und ihre Eltern richten, kündigte sie Unterstützung für Hikikomori an. Zusätzlich hat die Corona-Pandemie die Einsamkeit von Menschen in Japan massiv verstärkt – und es sind nicht mehr nur Hikikomori von der Isolation betroffen, sondern breite Teile der Bevölkerung. Ein Gremium, das Anfang 2021 ins Leben gerufen wurde, hat sich der Bekämpfung der Einsamkeit im Land verschrieben.
Schon vor der Pandemie signalisierte Japans Wirtschaftsminister Toshimitsu Motegi, dass die wachsende Zahl der Einsiedler bei dem enormen Fachkräftemangel in Japan nicht länger ignoriert werden könnte. "Die Hikikomori senden eine sehr machtvolle Nachricht an die japanische Gesellschaft", sagt Doktor Hisako Watanabe. "Schon allein ihre Existenz sollte genug sein, einen Wandel zu erzwingen." Es bleibt allerdings abzuwarten, ob wirtschaftliche Beweggründe der richtige Ansatz sind, um jenen zu helfen, die sich von der Welt abgehängt fühlen.
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