Jana Crämer ist 40 und hatte noch nie Sex. Sie hat noch nicht mal mit jemandem geknutscht. "Was stimmt nicht mit der?", ist meist die Reaktion von außen. Dabei ist Jana glücklich. Warum ist es so ein großes Tabu, kein Liebesleben zu haben?
Mein Name ist Jana, ich bin mittlerweile 40 – und ungeküsst. Ich hatte nie einen Freund, nie Sex mit einem Mann, obwohl ich Männer attraktiv finde. Ich bin weder asexuell, noch habe ich irgendeinen schrägen Fetisch. Ich bin total neugierig darauf, wie es sich anfühlen würde, verliebt zu sein. Aber es ist mir nie passiert.
"Der Richtige kommt schon noch!" – Was will ich eigentlich?
Lange war ich deshalb traurig und voller Selbstzweifel. Die ganze Welt dreht sich ja um Liebe und Sex: im Kino, in Zeitschriften, in der Musik. Es ist anerkannt, unglücklich in einer Beziehung zu sein, aber auf keinen Fall darfst du glücklich alleine sein, sonst wird dir gleich eine psychische Störung angedichtet. Ich litt lange unter den mitleidigen Blicken der anderen und ihren gut gemeinten, aber in Wahrheit abwertenden Kommentaren: "Der Richtige kommt schon noch!" Niemand fragte mich, was ich wollte – denn lange war es so, dass ich überhaupt keinen Partner wollte. Früher, als ich noch 180 Kilo wog, dachte ich, dass mich sowieso niemand lieben kann. Ich litt lange unter einer Essstörung namens Binge-Eating, immer wiederkehrende, exzessive Essanfälle. Ich war schon als Kind dick, wurde gemobbt. Bodyshaming und Selbsthass waren meine ständigen Begleiter. Ich hatte Angst davor, zurückgewiesen zu werden, nicht liebenswert oder begehrenswert zu sein. Ich schwärme gerne für jemanden, finde es aber eher nervig, wenn Gefühle erwidert werden. Also suchte ich mir Menschen aus, die unerreichbar sind. Es gibt einen Begriff, der ganz gut zu mir passt: Lithromantiker haben zwar romantische Gefühle gegenüber anderen Menschen, aber wollen oder brauchen nicht, dass diese erwidert werden. Die Gefühle verschwinden dann sogar.
Liebe und Sex – wirklich was für jede:n?
Ein Vorteil ist, dass ich nie Liebeskummer hatte, und weil ich noch nie jemanden verlassen habe, konnte ich auch noch nie jemanden verletzen. Ich halte die große Liebe für ein fantastisches Wunder, glaube aber nicht, dass sie jede:r erlebt.
Sex? Nun ja, den können andere gerne haben. Auch Kinder finde ich super, nur möchte ich keine eigenen haben. Ich brauche kein Mitleid, echt nicht. Dieses ständige Single-Shaming nervt – und ist komplett unangebracht: Ich kenne nämlich niemanden, der gerade so glücklich ist wie ich.
Aber es war ein langer schmerzhafter Prozess, an diesen Punkt zu kommen. Ich war ganz lange von mir und meinem Leben kolossal überfordert, musste erst mal meine Essstörung in den Griff kriegen, bevor ich mich auf die nächste unkontrollierbare Sache – die Liebe – hätte einlassen können. Ich habe lange nicht verstanden, dass andere Menschen mich mögen könnten, habe immer gedacht, dass sie wegrennen werden, wenn sie mich erst mal besser kennen würden. Vor einigen Jahren habe ich immer mehr zu mir selbst gefunden. Ich hörte auf, das zu tun, was andere von mir wollten, setzte mich kritisch mit mir auseinander und war endlich ehrlich zu mir selbst. Dadurch erkannte ich, dass ich verdammt noch mal nicht auf der Welt bin, um die Erwartungen anderer zu erfüllen, sondern um auf meine ganz persönliche Weise glücklich zu werden.
Ausgedachte Liebespartner und Unzufriedenheit
Immerhin habe ich schon als Kind gemerkt, dass ich anders bin. Wenn Flaschendrehen gespielt wurde, fand ich das eklig. Alle waren total fixiert aufs Küssen, aber mich hat das abgestoßen. Ich habe meine ganze Teenagerzeit hindurch gelogen und ein anstrengendes Doppelleben geführt, mich angepasst und so getan, als wäre ich wie die anderen. Ich erfand meinen ersten Freund, meinen ersten Kuss, den ersten Sex.
Oft hatte ich Alibi-Schwärme und habe mich dann auch wirklich gefreut, diese Person zu sehen, fand sie attraktiv, aber nicht anziehend. Ich habe gerne an sie gedacht, hatte aber nicht das Bedürfnis, dieser Person tatsächlich näherzukommen. Heute weiß ich, dass mein Lebensglück nichts mit einer (Nicht-)Beziehung zu tun hat. Halleluja! Früher wollte ich keinen Sex, weil ich mich selbst ganz eklig fand. Ich leide unter einer Krankheit namens Lipödem, eine Störung der Fettverteilung, bei der es zu einer unkontrollierten Fettvermehrung vor allem an Beinen, Hüfte, Gesäß und manchmal auch an den Armen kommt. Davon sind 3,8 Millionen Deutsche betroffen, überwiegend Frauen. Mein Gewebe hängt schlaff herunter, vor allem an den Beinen. Mittlerweile habe ich mich so akzeptiert, wie ich bin und spreche in den sozialen Medien ganz offen über meine Krankheit. Ich will Tabus brechen und anderen Mut machen, und damit erreiche ich mittlerweile Millionen. Das hat mich unglaublich beflügelt.
Es geht auch ohne Sex!
Wenn ich mich wirklich verlieben würde, wäre ich heute offen für Sex. Aber mein nächstes Buch wird trotzdem nicht "Jana, 40, ungefi**t" heißen. In mir brodelt kein sexuelles Verlangen, das befriedigt werden muss. Unter uns: Einen Orgasmus habe ich ganz gerne, aber eher zielgerichtet, zur Entspannung, um besser einschlafen zu können. Nicht aus einer Lust heraus. Ich finde Männer attraktiv, aber ich denke bei der Selbstbefriedigung nicht an sie. Es geht halt auch ohne!
Ich bekomme unzählige Zuschriften von Leuten, die in einer Beziehung sind, aber trotzdem keinen Sex haben – und das total gut so finden. Manche sind nur mit jemand anderem zusammen, damit sie endlich ihre Ruhe haben. Damit die Fragen aufhören, der Druck von außen. Ist das nicht verrückt? Wenn ich mich mit meiner Community austausche, höre ich immer wieder, dass einige Leute Sex total überbewertet finden oder keinen Bock (mehr) auf Sex haben, aber sich dazu zwingen, weil sie Angst haben, dass ihre Beziehung sonst den Bach runtergeht. Leider wird sehr wenig offen darüber gesprochen.
Der Druck von Außen fängt früh an
Schon 12-Jährige machen sich Sorgen, wenn sie noch keinen Sex hatten. Ich versuche ihnen auf meinen Konzertlesungen in Schulen die Angst zu nehmen: "Ihr seid gleich viel wert – egal, ob ihr mit jemandem geschlafen habt oder Jungfrau seid", sage ich dann. Unsere Gesellschaft ist komplett übersexualisiert. Ich habe es satt, dass wir uns deswegen ständig verstellen müssen. Das ist ein Teufelskreis. Warum können wir nicht offen darüber reden, dass es auch ganz viele Leute gibt, die kein Interesse (mehr) an Sex haben?
Ich hatte noch nie ein Vorstellungsgespräch, noch nie eine Fahrstunde, noch nie einen Freund. All diese Dinge, von denen andere sagen, man müsse sie machen, gelten für mich nicht. Ich kann machen, was ich will. Wenn ich in nächster Zeit Bock haben sollte, mit jemandem zu schlafen – ob nun mit oder ohne Liebe –, dann werde ich das tun. Dies ist das erste Jahr, in dem ich wirklich offen dafür wäre, mich zu verlieben.
Angeflirtet oder angesprochen werde ich oft, auch von Leuten, die ich attraktiv finde. Aber wenn sie mich fragen, ob ich mit ihnen auf ein Date gehen möchte, dachte ich bisher immer, dass mir das eher Zeit stehlen würde, als dass es mir guttun würde. Ich treffe mich lieber mit meinen Freund:innen, schenke denen Zeit, die sonst zu kurz kommen. Warum sollte ich mich darauf einlassen, mich mit einem Fremden zu treffen? Es ist also gut möglich, dass ich für immer ungeküsst bleibe. Auch das wäre in Ordnung, wenn ich mich damit am wohlsten fühle.
Keine Scham mehr – Hauptsache glücklich
Wir müssen aufhören, uns dafür zu schämen, dass wir nicht der Norm entsprechen, etwa aufgrund der Konfektionsgröße oder weil man ohne Partner:in ist. Als ich mein Buch geschrieben habe, fragte ich mich oft: Belügst du dich gerade selbst? Bist du wirklich glücklich, auch ohne das alles? Die Antwort lautet: Ja, denn ich bin vom Leben geküsst und habe die beste Beziehung – mit mir selbst. Und: Es gibt nur eine Sache, für die man sich schämen muss, und das ist ein Scheißcharakter.
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 05/23.
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