Erdung. Nur ein Modebegriff oder Wunderwaffe gegen Stress? Yoga-Lehrerin Annika Isterling verrät, wie durch die richtige Bodenhaftung mehr Ruhe, Klarheit und Entspannung in deinen Alltag kommen.
Wann hast du dich das letzte Mal auf den Boden gelegt? Nicht ungewollt, weil du gestolpert oder ausgerutscht bist. Sondern einfach so auf die Erde gelegt, deine Beine ausgestreckt und nichts getan, außer nur dazuliegen? Wir tun es am Ende einer Yoga-Praxis in der Haltung Savasana. Ganz schmucklos ohne Kissen und flauschige Unterlage. Der Körper ruht flach auf der Erde, um die in der Yoga-Praxis aufgebaute Energie gleichmäßig im Körper zu verteilen. Gleichzeitig wollen wir uns so aber auch erden.
Längere Arbeitstage, kürzere Erholungsphasen: Erdung kann helfen
Zur heutigen Zeit ist Erdung schon fast so "hip" wie Aktivkohle-Eis oder Buddha Bowls. Doch was bedeutet dies überhaupt? Die eigene Energie runterzufahren, sich mit dem Boden zu verbinden und die eigenen Batterien wieder aufzuladen. Das ist wichtig, denn die Welt scheint sich immer schneller zu drehen, wir nehmen uns mehr Dinge pro Tag vor, müssen mehr abliefern im Job, bekommen kürzere Deadlines, es werden höhere Erwartungen an uns gestellt, die Arbeitstage sind länger geworden und die Erholungsphasen kürzer.
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Vom Yin-und-Yang-Prinzip lernen: Mit Erdung in Balance bleiben
Kurz zusammengefasst, steigt die eigene innere Energie durch die vielen Anforderungen und das ständige Tun an, und man fühlt sich, als ob man den Boden unter den Füßen verliert. In der alternativen Medizin spricht man bei aktiver Energie mit vielen Impulsen und viel äußerer Aktivität (einem Alltag voller Bewegung und Terminen) sowie hoher innerer Energie (ständiges Grübeln und Sich-Gedanken-Machen) von Yang. Zu viel Yang ist auf die Dauer erschöpfend und kräftezehrend. Das Pendant dazu wäre Yin, eine passive, ruhige und langsame Energie, welche der des Erdbodens gleicht. Das Prinzip von Yin und Yang ist, dass wir versuchen sollten, beide Energien auszugleichen. Was bedeutet, dass man gerade, wenn man viel auf dem Zettel hat, sich diese erdenden und runterbringenden Pausen gönnen sollte.
In dem Moment, wo wir mit dem hohen Tempo nicht mehr mithalten können, sondern damit konkurrieren, entsteht schnell ein Gefühl von Überforderung in uns, das schließlich den Körper mit Symptomen wie körperlicher und emotionaler Erschöpfung, Gereiztheit, Angstzuständen und Atemnot reagieren lässt.
Sich mit dem Boden zu verbinden, verlieht auch auf anderen Ebenen Stabilität und Sicherheit
Stress und die daraus resultierenden Erkrankungen stehen zumeist in Zusammenhang mit dem Faktor Zeit. Wir rennen ihr ständig hinterher und haben doch nie genug davon. Nur wenn es uns gelingt, selbst Herr über unsere Zeit zu werden, sie in die Hand zu nehmen und langsamer laufen zu lassen, werden wir entspannter und souveräner damit umgehen. Wenn wir uns mit dem Erdboden verbinden, verbinden wir uns auch mit den Qualitäten von Erde: Ruhe, Langsamkeit, Nahrhaftigkeit, Tiefe, Schwere und Festigkeit.
Wann immer wir uns ärgern, stressen und ständig umhereilen, verlernen wir nicht nur, fest mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen, sondern auch generell Dinge zu besitzen, sie festzuhalten und zu bewahren. Ob das nun das liebe Geld ist, eine Freundschaft oder eine Beziehung. Je fester wir mit dem Boden und uns selbst verbunden sind, desto standfester und sicherer werden wir auch auf anderen Ebenen.
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In dem Moment, wenn wir uns auf den Boden legen, können wir nicht fallen. Was sich so simpel anhört, ist für das Nervensystem allerdings eine äußerst wichtige Botschaft, denn hier entsteht durch das bewusste Liegen ein Gefühl von innerer Sicherheit. In dem Moment, in dem du dich ablegst, lasse ganz bewusst das ganze Gewicht deines Körpers in den Boden sinken.
Mehr Ruhe durch Erdung - so geht's:
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Beginne, indem du dir vorstellst, dass deine Füße schwer sind, deine Beine, von der natürlichen Erdanziehungskraft angezogen, nach unten in den Boden sinken.
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Wandere von den Füßen angefangen langsam Körperteil für Körperteil nach oben bis zum Kopf, halte dabei immer wieder inne, um die Schwere zu fühlen.
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Das Ableiten der eigenen Energie weg von uns nach unten und außen ist ein Schutz vor Überbelastung und hilft bei der Bewältigung von Stress.
Durch die Stille kommt die Klarheit
Manchmal reicht es, die Augen für ein paar Minuten zu schließen, um der ständigen Flut von neuen Eindrücken und Informationen, die über unsere Augen auf uns einprasseln, einzudämmen und innere Ruhe zu finden. Diese Ruhe, die du dir selbst schenkst, ist nahrhaft für Körper, Geist und Seele.
Mit geschlossenen Augen spüren wir gleichzeitig auch den eigenen Atem viel besser. Dieser hat etwas Beruhigendes, denn er lässt uns im "Hier und Jetzt" ankommen, statt mit dem Fluss der Gedanken immer wieder ins Grübeln über die Vergangenheit oder in Sorgen über die Zukunft abzudriften. In der Ruhe und Stille, die wir uns schenken, kann eine neue Klarheit entstehen, die dabei hilft, Entscheidungen leichter zu treffen. Auch hier wirkt das Prinzip des Ableitens nach außen und unten, das wir aktivieren, indem wir die Ausatmung bewusst länger werden lassen.
Wenn wir auf unseren Körper achten, stärkt sich das Urvertrauen
Mit der Erdung stärken wir unsere Fähigkeit, uns selbst mehr Halt zu geben, indem wir uns bewusst immer wieder die Zeit nehmen, um auf Körpersignale zu hören. Statt Müdigkeit, Hunger, Krankheit und Schmerzen zu ignorieren, gib ihnen den Raum, gehört zu werden, und beginne, dich um deinen Körper und seine Bedürfnisse zu kümmern. Das Wertschätzen des Körpers durch Massagen, Ruhephasen und liebevolles Annehmen gibt dir dein Urvertrauen zurück und stillt das Bedürfnis nach Sicherheit.
Barfußgehen hilft dem Körper, sich von innen zu stärken
Man sagt, dass man sich nur dann erden kann, wenn man den Boden unter den Füßen spürt. Doch wer kümmert sich eigentlich regelmäßig um seine Füße? Auf der Beliebtheitsliste unserer Körperteile sind die Füße recht weit unten angesiedelt, dabei sind sie es, die uns durchs Leben tragen und uns die meiste Zeit mit der Erde verbinden. Eine Fuß-Massage ist wohltuend, entspannend, hat eine positive Wirkung auf das vegetative Nervensystem und lässt die innere Unruhe weichen. Danach spürt man auch gleich viel besser den Boden und damit den Halt unter den Füßen.
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Es ist empfehlenswert, sich immer mal wieder mit bloßen Füßen zu bewegen, ob zu Hause im Garten oder am Strand. Kinder tun es instinktiv am liebsten. Als Erwachsene haben wir uns angewöhnt, die meiste Zeit in Schuhen zu verbringen, und haben dabei unbewusst eine Isolationsschicht zwischen uns und die Erde geschoben. Barfußgehen aktiviert die Selbstheilungskräfte des Körpers, ein altes Wissen, was meist nur noch von Naturvölkern praktiziert wird. Also, Schuhe aus und los! Körperlich sein und seinen Körper annehmen. Vor allem nackt liebevoll mit sich umzugehen stärkt die Selbstakzeptanz und das Erden in unserem eigenen Sein. Gleich noch mal ein weiterer Grund, um sich mit einem schönen Öl ein kleines Selbstmassage- und Pflegeprogramm zu gönnen.
Sechs Minuten braucht das Nervensystem, um auf Entspannung umzuschalten
Das nächste Mal nach einem Streit kannst du lieber die hochgefahrene Energie direkt ins Putzen stecken, um dich zu beruhigen, und, voilà, neben den entspannten Nerven hat man auch direkt ein sauberes Zuhause. Oder magst du dich vielleicht doch lieber einfach für einen Moment auf den Boden legen? Sechs Minuten braucht das Nervensystem, um auf Entspannung umzuschalten. Eine gute Zeit-Investition in eine Erdung, die sich dauerhaft auszahlt.
Annika Isterling ist Yoga-Lehrerin, Buchautorin sowie Coach und Dozentin für Unternehmen. Sie gibt Retreats in aller Welt und hat bereits mehrere Bücher geschrieben: Das zweite Buch gibt Anleitungen für fünf Relax-Wochenenden daheim: "Wohlsein. Yoga-Retreats für zu Hause". (Theseus Verlag, 29,95 Euro)
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