Perfektionismus kann ein Fluch sein. Ob in der Erziehung, der Ehe oder im Job - immer wollen wir alles richtig machen. Doch oft scheitern wir an den eigenen Ansprüchen.
Perfektionismus – Fluch und Segen zugleich
Loslassen und Haus und Seele zu entrümpeln liegt im Trend. Immer mehr Ratgeber drängen uns dazu, Überflüssiges und Überlebtes abzugeben. Das fällt uns schon bei Kleidung nicht leicht und erst recht nicht bei Verhaltensmustern. Zumal wir sie nicht wie den Sommerpulli aus dem Schrank holen, sie drehen und wenden können, um dann zu beschließen, dass sie nicht mehr zu uns passen - und sie loslassen. Schließlich handelt es sich meist um unbewusste Strukturen; zu den hartnäckigsten gehört der Perfektionismus.
Der Perfektionist kommt nie an
"Zum Perfektionismus neigen sowohl Menschen mit narzisstischen Zügen, etwa Workaholics, als auch Menschen mit zwanghaften Tendenzen", sagt Prof. Rainer Sachse, Diplompsychologe und Leiter des Instituts für Psychologische Psychotherapie in Bochum, "wobei sich ihr Perfektionismus auf unterschiedliche Weise zeigt."
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Bei narzisstisch geprägten Menschen kommt er oft durch Arbeitswut zum Ausdruck. Sie sind ehrgeizig und meist sehr erfolgreich. Sie streben nach Anerkennung durch Leistung, wollen immer noch einen Tick besser sein. Ihr Motto ist: schneller, höher, weiter. Doch es reicht nie, sie kommen nie an. Ist ein Ziel erreicht, nehmen sie das nächste Projekt in Angriff. Sie brauchen den Stress, um sich lebendig zu fühlen, sich selbst zu spüren.
Die Angst davor, ein Versager zu sein
"Workaholics sind in ihrer Kindheit oft von den Eltern abgewertet worden oder wurden nur gelobt, wenn sie etwas geleistet hatten. Sie haben insgeheim das Gefühl, in Wahrheit nichts zu können, inkompetent, ein Versager zu sein. Und damit das bloß nicht herauskommt, treiben sie sich zu immer neuen Höchstleistungen an, oft weit über ihre Grenzen hinaus", sagt Rainer Sachse. Bis der Burnout sie irgendwann ausbremst.
Obacht, alle Perfektionisten!
Studien an den Universitäten von Florida und British Columbia in den USA haben gezeigt, dass Perfektionisten ein erhöhtes Risiko haben, "depressiv zu werden oder Angststörungen zu entwickeln". Auch chronische Kopfschmerzen können die Folge eines übermäßig ausgeprägten Perfektionsstrebens sein, wie eine Untersuchung an Studenten in Kanada ergab.
Bloß keinen Fehler machen!
Das gilt auch für Menschen, die sehr ordentlich und pedantisch sind. "Diese sind häufig von zwanghaften Zügen geprägt", so Prof. Sachse. "Ihr Perfektionismus zeigt sich darin, dass sie alles korrekt machen wollen." Sie befolgen Normen und Regeln, um bloß keine Fehler zu begehen, sind wenig spontan, sehr kontrolliert und kontrollieren andere, ob andere sich auch konform benehmen. Tun diese das nicht, verunsichert das zwanghaft veranlagte Menschen, weil sie nicht innerhalb der ihnen vertrauten Normen darauf antworten können. Sie haben Angst, einen "Fehler" zu machen und deshalb abgelehnt zu werden. Es ist die Angst vor Scham, die sie innerlich eng werden lässt.
Der ewige Leistungdruck der Perfektionisten
"Als Kinder haben sie von ihren Eltern gelernt, dass sie, wenn sie sich nicht an Normen halten, bestraft und moralisch abgewertet, nicht geliebt werden." Daher legen sie auch später als Erwachsene oft großen Wert auf Genauigkeit und wollen die Dinge fehlerfrei erledigen. Das kann dazu führen, dass sie sich vor lauter Gründlichkeit selbst lähmen: "Sagt der Chef spätnachmittags, er brauche eine Sache am nächsten Tag und der Mitarbeiter solle einfach mal fünfe gerade sein lassen, Hauptsache, das Wesentliche stehe drin, wird ein zwanghafter Perfektionist das vermutlich nicht hinbekommen", so Sachse. Ein Narzisst hingegen - dem es weniger um die Details als um die Leistung an sich geht - würde bis drei Uhr nachts schuften und das Papier abgeben. Die zwei Tippfehler sind nicht schön, okay, aber er ist fertig geworden.
Loslassen macht das Leben leichter
"Menschen, die immer alles genau machen wollen, fällt es nicht leicht loszulassen", sagt Professor Sachse. Sie können aber mit kleinen Schritten anfangen. Einmal nicht das ganze Zimmer putzen, wenn Besuch kommt, sondern nur durchsaugen. Sich einen Kinoabend gönnen, selbst wenn sich der Bügelberg türmt. Im Büro etwas liegen lassen, was am nächsten Tag erledigt werden kann - und den Sommerabend genießen.
Der selbstauferlegte Stress verlagert sich oft in die Freizeit
Ein narzisstisch veranlagter Mensch wiederum gerät beim Versuch, sein perfektionistisches Verhalten loszulassen, leicht wieder in die Leistungsfalle. "Da ist etwa der Manager, der in den Tennisclub eintritt, um sich zu entspannen", erzählt Sachse. "Doch nach sechs Monaten ist er der beste Spieler von allen." Und hat noch mehr Stress. Da hilft es, einmal etwas zu unternehmen, was einfach nur Spaß macht. Oder - bewusst - faul zu sein. Stress abbauen ist angesagt. Aber das muss man üben. Loslassen bedeutet auch, mit dem Erreichten zufrieden zu sein und zu erkennen, dass es längst genug Beweise dafür gibt, dass man etwas kann - und beim nächsten Mal wieder eine gute Leistung erbringen wird.
Wissen, wann es genug ist
Auf diese Weise können narzisstisch geprägte Perfektionisten allmählich hinüberwechseln zu den Leistungsmotivierten. Das sind Menschen, die zielstrebig sind, gern und viel leisten, denen ihre Arbeit ebenfalls große Freude bereitet - die aber auch wissen, wann es genug ist. Die ihre Bedürfnisse kennen und Verantwortung dafür übernehmen. Sie wissen, wann sie mal eine Pause brauchen, sie setzen sich hohe, aber nicht unerreichbare Ziele. Und sie begreifen Fehler nicht als Beweis ihres Versagens, sondern als Chance zu lernen. Um es das nächste Mal anders und vielleicht besser zu machen.
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