"Was, wenn ich den Herd angelassen habe und nun das ganze Haus brennt?" – Wir machen uns Sorgen, ständig und überall. Ernüchternde Wahrheiten über das Angst-Problem unserer Gesellschaft.
Angst und Sorgen begleiten uns ständig
Die Angst ist unsere ständige Begleiterin. Sie klammert sich in unserem Kopf fest und will da einfach nicht weg. Beschallt uns permanent mit diversen schlimmen Szenarien, die eintreten könnten. Ihr liebstes Folter-Instrument ist die "Was, wenn...?"-Frage: Was, wenn ich gekündigt werde? Was, wenn ich Krebs habe und es nicht weiß? Was, wenn mich eigentlich gar keine:r mag? Besonders ernüchternd: nur 3 Prozent unserer rund 60.000 Gedanken am Tag sind positiv, heißt es in wissenschaftlichen Studien. Einen Großteil der Zeit macht sich also ohrenbetäubende Angst in unseren Köpfen breit. Und wir kennen sie alle – denn sie ist bezeichnend für unsere moderne Gesellschaft, schreibt der Soziologe Dr. Roland Paulsen in seinem neuen Buch "Die große Angst" (Mosaik Verlag).
Depressionen und Angststörungen steigen rasant an
Selbst Zahlen beweisen das: Die Weltgesundheitsorganisation WHO bestätigte im Jahr 2017, dass Depressionen weltweit die häufigste gesundheitliche Beeinträchtigung seien. Damit hat die Anzahl depressiver Menschen innerhalb eines Jahrzehnts um fast 20 Prozent zugenommen. Mittlerweile seien Angststörungen sogar noch weiter verbreitet als Depressionen, schreibt Paulsen. Sie zeigen sich in verschiedensten Ausprägungen: soziale Angst, Panikstörungen oder Hypochondrie sind nur ein paar Beispiele. Längst ist die Angst kein individuelles Problem mehr, sondern eine gesamtgesellschaftliche Symptomatik.
Lies auch:
- Postangst – eine Betroffene erzählt von ihrer Angst, Briefe zu öffnen
- Was ist Toxic Positivity? Und warum schadet ständiger Optimismus uns so?
Wir sind unfähig, mit Unsicherheiten zu leben
Und das liegt vor allem daran, dass es uns heutzutage schwer fällt, mit Unsicherheiten klarzukommen, meint Paulsen. In einer modernen, zukunftsorientierten Welt voller Überfluss und Wahlmöglichkeiten müssen wir Dinge kalkulieren können, Risiken abschätzen, Situationen berechnen, um dem ganzen Wahnsinn standhalten zu können. Das beste aktuelle Beispiel ist die Corona-Pandemie, in der von Wissenschaftler:innen immer wieder neue Kurvenverläufe berechnet wurden und Politiker:innen immer wieder neue Maßnahmen abgeschätzt haben – alles schien ungewiss und unvorhersehbar. Und auch auf persönlicher, individueller Ebene setzen wir uns immer wieder mit verschiedenen Zukunftsszenarien auseinander: das kann von Sorgen über Job-Probleme bis hin zum Sinnieren über mögliche Krankheiten reichen. Wir leben gedanklich in der Zukunft und unser Instrument, uns im Strom der Milliarden Möglichkeiten zurechtzufinden ist die "Was, wenn..."-Frage.
Das Problem: diese Zwangsgedanken können ganz schnell krankhaft werden und sich als Angststörung (zum Beispiel Hypochondrie oder soziale Phobie) äußern. Kein Wunder, dass die Zahl der Menschen, die an einer Angststörung leiden, heute so hoch ist wie noch nie: schätzungsweise ist ein Drittel aller Europäer:innen einmal im Leben davon betroffen. Und weltweit betrachtet sind Angststörungen die häufigste Form psychischer Erkrankungen.
Wir können bestimmte Gedanken nicht nicht denken
Besonders ernüchternd daran ist, dass wir Menschen noch nicht einmal in der Lage sind, unerwünschte Gedanken vollkommen zu verdrängen – häufig führt der Versuch sogar dazu, dass sich der Gedanke eher noch verstärkt. Das wurde psychologisch schon mehrfach mit dem bekannten "Eisbären-Experiment" nachgewiesen, auf das auch Paulsen verweist: Wenn man einem Menschen sagt, er soll nicht an einen Eisbären denken, so denkt er zwangsläufig daran. Genauso ist es mit unseren Sorgen.
Auswege aus der Angst-Spirale: Gibt's die?
Klingt alles ganz schön bedrückend und ausweglos irgendwie. Insgesamt scheinen wir also Gefangene unserer eigenen Gedanken, unserer Ängste zu sein. Gibt's denn da gar keine Möglichkeit, auszubrechen? Doch, meint Paulsen. Wir können uns ablenken – mit Sport, Meditation, Lesen, Kunst, Alkohol, Drogen, Fernsehen. Die Forschung arbeitet permanent an Lösungen für Angsterkrankungen: So haben zum Beispiel Wissenschaftler gerade herausgefunden, dass "Magic Mushrooms" gegen Depressionen helfen könnten. Dennoch können wir mit Ablenkung nicht das Grundproblem bekämpfen, meint Paulsen: nämlich, "dass wir in einer Gesellschaft leben, in der wir gezwungen sind, uns mit einer Zukunft voller Gefahren und Wahlmöglichkeiten auseinanderzusetzen".
Byron Katies Methode "The Work" gegen Ängste und Sorgen
Fest steht aber, dass wir die Gesellschaft (leider) nicht von heute auf morgen ändern können. Wir müssen also unsere eigenen Bewältigungsstrategien finden, mit denen wir unsere Ängste so gut in Schach halten, dass sie nicht mehr unseren Alltag bestimmen. Wer sich nur ein wenig in das Gebiet der persönlichen Weiterentwicklung und der Angstbewältigung einliest, der oder die wird wohl recht schnell auf die US-amerikanische Bestsellerautorin Byron Katie stoßen, die auf ihre Methode "The Work" schwört. Kurz gesagt geht es darum, die eigenen negativen Gedanken und Überzeugungen zu hinterfragen und abzulegen. Die Methode geht davon aus, dass nicht alle Gedanken und Ängste in unserem Kopf wahr sind und wir ihnen nicht immer Glauben schenken dürfen. Wenn uns also gerade ein bestimmter Gedanke belastet, so sollen wir uns laut Byron folgende vier Fragen stellen:
- Ist das wahr?
- Kannst du mit absoluter Sicherheit wissen, dass das wahr ist?
- Wie reagierst du (was passiert in dir), wenn du diesen Gedanken glaubst?
- Wer wärst du ohne den Gedanken?
Ein Beispiel: Bei einem Gedanken wie "Max meldet sich nicht bei mir zurück, weil er mich langweilig findet" würde die erste Frage, die wir uns stellen müssten, lauten: "Ist das wahr, dass Max mich langweilig findet?", die zweite: "Kann ich mit absoluter Sicherheit sagen, dass Max mich langweilig findet?" und so weiter. Im nächsten Schritt, so besagt es die "The Work"-Methode, soll der negative Gedanke dann umgekehrt werden. Das Ziel dabei ist, eine ganz andere Perspektive im Kopf einzunehmen. Die Umkehrung vom Beispielsatz könnte also lauten: "Max findet mich nicht langweilig" oder "Ich finde Max langweilig". Hier geht es darum, neue Sätze zu finden, die ebenfalls wahr sein könnten und uns ein besseres Gefühl schenken.
EFT, MBSR und Gespräche mit anderen
Eine weitere bekannte Methode, die gegen Sorgen und Ängste helfen soll, ist EFT (Emotional Freedom Technique). Dabei handelt es sich um eine sogenannte Klopfakupressur, die Blockaden im Körper und Geist lösen soll, wie das Klopfen auf die Thymusdrüse. Auch MBSR, auch "achtsamkeitsreduzierte Stressreduktion" soll dabei helfen, negative Gedankenketten zu unterbrechen. Wie du siehst: Es gibt etliche Methoden, Techniken und Bücher, die sich mit dem Problem der ständigen Sorgen auseinandersetzen. Allein schon die Masse an Literatur zu dem Thema zeigt, wie sehr Ängste unsere Gesellschaft und unser heutiges Leben bestimmen. Vielleicht hilft manchmal schon der Gedanke: Ich bin nicht die einzige Person, die mit diesen inneren Konflikten und negativen Gedankenketten durch die Welt geht, eigentlich geht es vermutlich jedem und jeder in meinem Umfeld ähnlich. Was können wir also noch tun? Drüber sprechen, mit anderen. Ob nun mit Therapeut:innen oder mit Freund:innen, Kolleg:innen oder Familie – denn irgendwie sitzen wir doch alle im selben Boot mit unseren Gedanken.
Weitere Leseempfehlungen zum Thema Ängste und Sorgen:
- Ich denk, ich denk zu viel, Nina Kunz (Kein & Aber, 20 €)
- Sorge dich nicht, lebe! Dale Carnegie (Fischer Verlage, 13 €)
- Das Angstbuch, Borwin Bandelow (Rowohlt, 12 €)
- Panikattacken und andere Angststörungen loswerden, Klaus Bernhardt (Penguin, 18 €)
- Byron Katies The Work, Moritz Boerner (Goldmann, 9 €)
Weiterlesen: