Der Gang zum Briefkasten ist für Elisabeth Berger* ein "grässliches Gefühl", vergleichbar mit der Angst, die andere Menschen vor einem Zahnarzttermin haben. Sie ist 62 Jahre alt und hat Postangst. Damit ist sie nicht allein, laut Priv.-Doz. Dr. Jens Plag gibt es einige Betroffene. EMOTION hat Elisabeth Berger von ihrer Angst erzählt.
*Name von der Redaktion geändert
Postangst – über die Angst, Briefe zu öffnen
Es begann mit einer Mahnung, die in ihr Elternhaus flatterte, als sie noch dort wohnte. "Dann gab es krassen Familienkrach, das kann man sich gar nicht vorstellen", erzählt Elisabeth Berger. "Meine Eltern waren beide sehr korrekt, das war die Generation der frühen Zwanziger-, Dreißigerjahre." Als sie später in ihre erste eigene Wohnung zog, stapelten sich die Briefe, die sie erhielt, auf dem Treppenabsatz – ungeöffnet. Aus Angst. Denn Post zu bekommen, das bedeutete meist Rechnungen oder Briefe von Behörden. "Es gab immer wieder mal Zeiten als Selbstständige, in denen nicht viel Geld reinkam, in denen es Ärger gab. Ich wusste nicht, ob ich das alles noch gebacken bekomme." Berger warf ihre Briefe in Plastikkisten, anstatt sie zu öffnen. Waren sie voll, kaufte sie neue Kisten. Ein Teufelskreis, wie sie selbst sagt. "Wenn man erst einmal anfängt, sich zu drücken, wird das zur Gewohnheit. Teilweise hatte ich so ein schlechtes Gewissen, dass ich lieber zur Terrassentür rausgegangen bin als am Briefkasten vorbei."
Priv.-Doz. Dr. Jens Plag ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und und war langjährig stellvertretender Leiter der Spezialambulanz für Angsterkrankungen an der Berliner Charité. Aktuell ist er Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Alexianer Krankenhauses Hedwigshöhe in Berlin Treptow, forscht jedoch weiter zum Thema Angst an der Charité. Er erklärt, die Angstquelle um jeden Preis vermeiden zu wollen, sei ein typisches Verhalten bei Angstpatient:innen: "Kein Mensch möchte Angst erleben und oft geschieht es dann intuitiv, dass angstauslösende Situationen vermieden werden." Die Angst vor Post begegne Plag gar nicht so selten, wie man glauben mag.
Wie entsteht Angst und wie können wir sie bekämpfen?
Denn grundsätzlich können wir Menschen vor allem Angst haben. Dr. Jens Plag berichtet, dass Postangst als spezifische Phobie, viel häufiger aber im Rahmen einer generalisierten Angststörung auftreten kann. Betroffene einer generalisierten Angststörung leiden unter einem ständig präsenten Gefühl von Sorge und Befürchtungen, auch in Bezug auf alltägliche Probleme. Doch wie entstehen Ängste eigentlich bei uns? Plag nennt zwei wesentliche Faktoren: die Kindheit und Genetik. Studien weisen darauf hin, dass ein Drittel des Erkrankungsrisikos erblich bedingt ist. Auch die Kindheit und das Verhalten der Eltern in unsicheren Situationen kann Kinder nachhaltig prägen. Nach der Lerntheorie 'Lernen am Modell' übernehmen Kinder das Verhalten von Bezugspersonen unkritisch in ihr eigenes Wahrnehmungs- und Verhaltensrepertoire, weil sie es noch nicht bewerten und reflektieren können. "Aber auch persönliche negative Erfahrungen im Jugend- und Erwachsenenalter können zentral zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Angststörungen beitragen", sagt Plag. Im Erwachsenenalter werden die Angstquellen dann häufig gänzlich vermieden. "Kurzfristig führt das zu einer Entlastung, langfristig engt diese Vermeidung Patient:innen aber immer mehr ein".
Therapien versprechen langfristige Besserungen bei Angsterkrankungen
Nachhaltig kann eine Therapie helfen. "Die Behandlung von Angsterkrankungen findet im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie statt, ein wichtiger Baustein dieser Therapie ist die Konfrontationstherapie", sagt Plag. In der Konfrontationstherapie werden Patient:innen mit angstauslösenden Situationen konfrontiert und versuchen, sie bewusst auszuhalten. "Ziel ist es, die Angst so lange auszuhalten, bis sie abfällt." Das funktioniert, weil Angst aus evolutionärer Sicht gar nicht darauf ausgelegt ist, ewig anzuhalten. "Es gibt einen Scheitelpunkt, an dem die Angst schließlich abfällt. Für Patient:innen ist das eine wichtige psychologische Erfahrung, denn dadurch werden im sogenannten Angstnetzwerk im Gehirn, in dem unsere Angst gesteuert wird, neue Verknüpfungen erstellt. Von ängstlich auf angstfrei", sagt Plag. Wiederholt man die Konfrontationsübung anschließend mit dem Patienten oder der Patientin, stabilisieren sich die neuen Verknüpfungen von Mal zu Mal immer mehr und die Angstkurve verläuft zunehmend flacher.
Lange Wartezeiten für Therapieplätze
Vor etwa vier Jahren nahm sich auch Elisabeth Berger vor, psychologische Betreuung zu suchen. Sie hoffte, jemanden zu finden, die oder der ihr Mechanismen zeigen könnte, um mit ihrer Angst umzugehen. Doch die Wartezeit auf einen Kassen-Therapieplatz wird immer länger. 2019 lag sie noch bei durchschnittlich 22,5 Wochen, mittlerweile sind es laut dem "Verband Psychologischer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten" (VPP) 24 Wochen – fast ein halbes Jahr.
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Dr. Jens Plag kennt das Problem, vor allem im ländlichen Raum. Wichtig sei in der Zwischenzeit vor allem, sich dem Drang der Vermeidung bewusst zu sein und zu versuchen, sich ihm zu widersetzen. "Denn Angsterkrankungen haben ein hohes Chronifizierungsrisiko, unbehandelt haben sie also die Tendenz, schlechter zu werden oder immer wieder aufzutreten." Auch Berger machte ähnliche Erfahrungen mit der Wartezeit auf einen Therapieplatz: "Krieg da mal einen Termin. Es dauert ja auch, bis man die richtige Person gefunden hat, denn die Chemie muss stimmen". Sie entschied sich, stattdessen in einer Facebook-Gruppe ein Jobangebot zu veröffentlichen: "Suche Hilfe beim Sortieren von Post und Bürokram". Dort meldete sich eine Frau, eine kaufmännische Angestellte, die ihr von nun an regelmäßig helfen sollte, Ordnung und Struktur in die Kisten voller ungeöffneter Briefe zu bringen. Zwei Jahre lang machten sie große Fortschritte. "Sie ist mein Anker", sagt Berger. Und dann kam Corona.
"Die ersten beiden Jahre waren sehr belastend"
Wegen der geltenden Beschränkungen, roter Coronawarnapp-Meldungen und positiver Fälle im Büro ihrer Bürohilfe entschied sich Elisabeth Berger, auf die Unterstützung zu verzichten. Keine leichte Entscheidung, aber "niemand wusste ja, was das für ein Virus ist, als es losging". Fast zwei Jahre war sie wieder alleine mit ihrer Post, die sich erneut ungeöffnet stapelte. Dann, als sie beide geboostert waren, fingen die beiden Frauen wieder an, sich gemeinsam um den Briefberg zu kümmern. "Die ersten beiden Corona-Jahre waren sehr belastend für mich, vor allem, seitdem ich weiß, dass es auch anders geht. Meine Bürohilfe ist eine unglaubliche Erleichterung für mich." Wenn alles erledigt ist und alle Altlasten beseitigt sind, fühle sie sich gut, "wie Gott in Frankreich", erzählt Berger.
Das Wissen, nicht alleine mit der Angst zu sein, hilft
Im Internet gibt es mehrere Berichte über Menschen mit Postangst. Elisabeth Berger sagt, sie habe über die Jahre jeden Bericht, jeden Artikel in der Zeitung über Betroffene gelesen, der ihr in die Hände kam. Negative Reaktionen aus ihrem Umfeld gibt es nicht, vielmehr haben Leute, denen sie davon erzählt, Verständnis: "Viele können das nachvollziehen, denn heutzutage kriegt ja niemand mehr gerne Post. Man bekommt ja keine netten Briefe mehr von Freunden, sondern wird immer nur gebeten, die Geldbörse zu zücken".
Mit der Zeit konnte sie ihre Angst als einen Teil ihres Lebens akzeptieren – auch weil sie wusste, dass es auch andere gibt, für die der Gang zum Briefkasten einer Zerreißprobe der Nerven gleicht. Der entscheidende Schritt war aber, sich Hilfe zu holen, erzählt sie. "Die Hilfe, die ich habe, nimmt mir Steine vom Buckel, ich habe ein viel leichteres Leben dadurch. Das ist auch mein Appell an alle: Holt euch Hilfe, es wird besser."
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