Leben im Schneckentempo: Wer am Fatigue-Syndrom leidet, ist chronisch erschöpft, müde, kann den Alltag kaum stemmen. Eine Patientin schildert ihre Erfahrungen mit der Krankheit – in einer Gesellschaft, in der alles auf Leistung und Tempo gepolt ist.
Ob Zoom-Fatigue, Corona-Brain oder Corona-Burnout – ein bisschen antriebslos und neben der Spur sind ja gerade alle. Und überhaupt hat sich das Wort "Fatigue" seit Bekanntwerden der Corona-Spätfolgen immer mehr in unsere Köpfe eingebrannt. Müdigkeit, Erschöpfung, Abgeschlagenheit – alles irgendwie Schlagworte der vergangenen Monate.
Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS): Ständig erschöpft
Doch es gibt Menschen, die über Jahre hinweg mit ständiger Müdigkeit zu kämpfen haben – Claudia Simon (37) zum Beispiel. Sie erkrankte 2014 nach einem Urlaub in den Tropen am chronischen Fatigue-Syndrom (CFS). Der Weg zu ihrer Diagnose war ein richtiger Kampf, erzählt sie. "Zwei Jahre lang bin ich von Arzt zu Arzt geirrt und dachte schon, ich wäre Hypochonderin oder mit mir stimmt irgendwas nicht. Die meisten Ärzte haben das dann gleich immer auf die Psyche geschoben. Gerade auch als sie gehört haben ich sei Lehrerin: 'Ach naja, sie haben halt ein Burnout'. Aber ich wusste, dass das nicht stimmt. Ich habe meinen Beruf gerne gemacht".
Trotz ständiger Müdigkeit und Erschöpfung versuchte Claudia, ihr normales Leben so gut wie möglich aufrecht zu erhalten – doch das raubte ihr jegliche verbliebene Energie: "Ich bin ständig auf der Arbeit ausgefallen, hab mich aber immer wieder hingeschleppt, weil ich mir dachte: Du kannst jetzt nicht schon wieder fehlen. Ich habe die Ferien und jedes Wochenende gebraucht, um mich zu erholen. Soziale Kontakte oder Unternehmungen waren gar nicht mehr drin, weil ich mich immer nur ausruhen musste. Bis es dann irgendwann gar nicht mehr ging und ich es gar nicht mehr zur Arbeit geschafft hab. Ich habe meine Stunden vorher reduziert und wirklich alles probiert".
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Nach Symptomen dann die Diagnose
Als Claudia in der Berliner Charité schließlich mit dem Chronischen Fatigue-Syndrom (oder auch "Myalgische Enzephalomyelitis") diagnostiziert wurde, war das für sie Erleichterung und Ernüchterung zugleich. Zwar kannte sie dann die Ursache ihrer Symptome und konnte diese besser einordnen, andererseits war es für sie auch ein "Schlag ins Gesicht", meint sie. Denn die Ärzte konnten ihr nicht sagen, ob ihre Fatigue jemals wieder aufhören wird. Tatsächlich ist die Krankheit bisher nicht ausreichend erforscht. Für Patiennt:innen, bei denen das Pfeiffer'sche Drüsenfieber der Auslöser für das Chronische Fatigue-Syndrom ist, gibt es allerdings mittlerweile Medikamente.
Ich habe das Gefühl, man ist irgendwie nicht mehr 'gesellschaftsfähig', wenn man nicht mehr die Energie hat und so funktioniert, wie es die Leistungsgesellschaft von uns erwartet.
Claudia Simon, CFS-PatientinTweet
Bei Claudia ist das aber nicht der Fall. Die Ärzte rieten ihr, das Leben nach der Krankheit auszurichten. Doch das sei leichter gesagt, als getan. "Bei mir kommen ganz oft Existenzängste hoch", erzählt sie. "Solange man eine gewisse finanzielle Absicherung hat, fällt es einem – zumindest mir – leichter, schlechte Tage zu akzeptieren. Mein ganz, ganz großes Ziel ist es, da mal hinzukommen. Dass ich eben auch in unserer Gesellschaft ein Leben im 'Schneckentempo' führen kann und dabei aber trotzdem nicht auf den Staat angewiesen sein muss". Denn in einer Gesellschaft, die nur auf Schnelligkeit und Leistung gepolt ist, kann es zusätzlich belastend für Betroffene sein, mit diesem Tempo nicht mithalten zu können. "Ich habe das Gefühl, man ist irgendwie nicht mehr 'gesellschaftsfähig', wenn man nicht mehr die Energie hat und so funktioniert, wie es die Leistungsgesellschaft von uns erwartet".
In ihrem Umfeld gab es schon Situationen, in denen Claudia sich nicht ernst genommen fühlte. Mit Sprüchen wie "Ach, erschöpft sind wir doch alle" oder "Das ist ja jetzt kein Grund, für längere Zeit auszufallen" wurden ihre Symptome belächelt. "Von Leuten, die den ganzen Prozess vorher nicht mitbekommen haben, kamen oft doofe Kommentare wie: "Ach, du siehst aber gut aus, dann kommst du ja sicherlich bald wieder zur Arbeit'". Es ging sogar soweit, dass Claudia an 'guten' Tagen, an denen sie sich beim Rausgehen eigentlich ein bisschen schick machen wollte, immer an die Reaktionen von außen dachte: "Da habe ich mich dann nicht geschminkt, weil ich dachte: Nee, du darfst ja jetzt nicht gut aussehen".
Zahlen und Fakten zum Chronischen Fatigue-Syndrom
- In Deutschland gibt es geschätzt 300.000 Betroffene
- Meistens sind die Patient:innen zwischen 16 und 40 Jahre alt
- Häufig tritt CFS nach einem schweren Infekt auf
- Typische Symptome: Chronische Müdigkeit, Schlafstörungen, anhaltende Erschöpfung (auch nach Erholungsphasen), Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme, Allergien, Unverträglichkeiten, Schmerzen, Zunahme der Erschöpfung nach Belastung
- Viele Patient:innen können ihren Beruf nicht mehr ausüben
- CFS und seine Behandlung ist noch nicht ausreichend erforscht, zugelassene Medikamente gibt es bislang nicht (häufig nehmen Patient:innen Nahrungsergänzungsmittel ein, um den Energiestoffwechsel zu optimieren)
- Als Risikofaktoren für das CFS gelten psychische Belastungen wie Depressionen, Immundefekte und weitere Fälle in der Familie
Quelle: Charité Fatigue Centrum
Alltag mit dem Chronischen Fatigue Syndrom
Mittlerweile haben sich die Symptome bei Claudia ein kleines bisschen gebessert, die Müdigkeit überfällt sie –anders als zu Beginn der Krankheit – in Schüben. "Anfangs war es so, dass ich das wirklich jeden Tag hatte und wirklich die einfachsten Dinge nicht hinbekommen habe" – Dinge wie schnelle Supermarkteinkäufe oder Treppen steigen zum Beispiel. Was Claudia nervt, ist die Unvorhersehbarkeit der Schübe. "Ich hab schonmal einen Tag, an dem ich ein bisschen was schaffe, das sind dann auch nur alltägliche Dinge, wie zum Beispiel mit dem Hund Gassi gehen. Und dann kommen wieder Tage, wo es mich erschlägt und ich den ganzen Tag nur auf dem Sofa liege und schlafe. Ich kann halt nicht sagen: 'Ach morgen ist ein neuer Tag und dann ist wieder alles besser'." Sie versucht, positiver mit damit umzugehen, doch das fällt nicht immer leicht.
Kunst als Weg zur Heilung?
Die Kunst hilft Claudia beim Umgang mit ihrer Krankheit sehr. Da sie ihren ehemaligen Beruf als Kunstlehrerin nicht mehr ausüben kann, hat sie einen neuen Weg entdeckt, im Alltag kreativ zu werden: das Sticken. "Über das Sticken gewann ich 'Stich für Stich' meine Lebensfreude wieder zurück. Bis heute hilft es mir enorm dabei innerlich zur Ruhe zu kommen. Und es führt mir gleichzeitig vor Augen, dass ich doch noch etwas Energie für die schönen Dinge im Leben habe. Das gibt mir Kraft und motiviert mich, ein Leben in meinem ganz eigenen Tempo führen zu können". Sie stickt regelmäßig auf ihrem Sofa und zelebriert dabei den langsamen Schaffensprozess. "Für mich und andere sind die Stickbilder ein Ruhepol im hektischen Alltag. Das was ich in dem Moment fühle oder denke, spiegeln meine Bilder wider." Gleichzeitig möchte sie mit ihrer Kunst auch anderen CFS-Betroffenen Mut machen.
Die Freude am Leben und der Kunst lässt sich auch in Claudias Handcut-Stencils wiederfinden. Upcycling-Art ist ihr Thema: aus etwas Vorhandenem, Bekannten, etwas Neues zu erschaffen. "Die Stencils spiegeln für mich eigentlich wider, wie ich meinen Humor zurückgewonnen habe". Vor zwei Jahren ist sie zum Beispiel mit ihre Lieblingsschuhen und einen fetten Kaugummi getreten – den Moment hat sie dann mit einem Stencil-Bild festgehalten. "Das sind so Momente, in denen ich für meine Krankheit wiederum sehr dankbar bin, weil ich dadurch auch die kleinen Dinge des Lebens schätzen gelernt habe. Das versuche ich dann oft, in den Bildern widerzuspiegeln".
Claudias Website: www.meinhood.shop
Anlaufstellen für Betroffene:
- Website des Charité Fatigue Centrums und Anmeldung für eine Sprechstunde
- Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e.V.
- Deutsche Depressionshilfe
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