Multiple Persönlichkeitsstörung: Eine gespaltene Identität hilft Betroffenen, mit einem Trauma umzugehen – und zersplittert gleichzeitig das Leben.
Multiple Persönlichkeitsstörung: Ein Leben mit mehreren Persönlichkeiten
Robert Oxanam ist bis heute erfolgreicher Mann: Als Präsident der amerikanischen Asiengesellschaft begleitete er George Bush und Bill Gates früher auf ihren Chinareisen. Doch privat häuften sich damals die Probleme. Er litt unter seltsamen Gedächtnislücken und fand sich häufig an Orten wieder, ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen ist. Auf der Suche nach einer Erklärung konfrontierte ihn sein Psychotherapeut schließlich mit einer erschreckenden Diagnose: Er hat eine "multiple Persönlichkeitsstörung".
Dissoziative Persönlichkeit: Was genau bedeutet das?
Robert Oxnam ahnte bis zu diesem Zeitpunkt nicht, dass er elf verschiedene Identitäten in sich vereint. Während seiner Psychotherapie begannen sie zu sprechen: Erwachsene, Jugendliche, Kinder, selbst eine Frau. Wenn sich eine dieser "Persönlichkeiten" in den Vordergrund drängt, ändern sich Oxnams Stimmlage, Gestik und sein Temperament. Da ist zum Beispiel Bob. Er ist schlagfertig, charmant und liebt es, im Mittelpunkt zu stehen. Robbey dagegen hat Panik vor öffentlichen Reden, beherrscht aber tausende von chinesischen Schriftzeichen. Bobby hingegen weiß überhaupt nichts von China, kann kaum lesen, raucht, trinkt zu viel und blüht nur beim Segeln wirklich auf. Wanda wiederum, die Frau in Oxnams Körper, ist sehr zurückhaltend und meditiert gern. Robert Oxnam ist lediglich die Kernpersönlichkeit, er regelt den Alltag, spricht mit anderen Leuten und bestimmt den größten Teil des Lebens. Seine nahezu unglaubliche Geschichte erzählt der Wissenschaftler in dem Buch "Ich bin Robert, Wanda und Bobby".
Viele Menschen haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Denn wir alle vereinen verschiedene Rollen in uns; am Arbeitsplatz verhalten und fühlen wir uns anders als beim Abendessen mit Freunden oder bei einem Date. Doch es gibt einen großen Unterschied: Gesunde Menschen sind sich ihres jeweils unterschiedlichen Verhaltens bewusst, bei multiplen Persönlichkeiten ist das Gedächtnis der einzelnen "Charaktere" wie von einer Mauer umgeben – daher wusste Oxnam lange nichts von der Existenz der anderen Identitäten. Im ICD10, dem internationalen Klassifikationssystem der Krankheiten, wird dieses Phänomen "Dissoziative Identitätsstörung" genannt.
Auf einen Blick: Multiple Persönlichkeitsstörung
- Die dissoziative Identitätsstörung ist die schwerste Form von dissoziativen Störungen. Am bekanntesten ist sie unter dem Begriff "Multiple Persönlichkeitsstörung"
- Auslöser für die Persönlichkeitsstörung kann ein schweres Trauma (z.B. sexueller Missbrauch, Gewalt) aus der Kindheit sein.
- Betroffene entwickeln eine multiple Persönlichkeit, um diese schlimmen Erfahrungen bewältigen zu können – die Flucht in viele verschiedene Persönlichkeiten dient dann als eine Art Schutzmechanismus.
- Jede Identität hat dabei sein eigenes Verhalten und Gedächtnis, häufig unterscheiden sie sich sehr stark in ihren Eigenschaften. Die Persönlichkeitsanteile kommen auch zu versetzten Zeitpunkten zum Vorschein – allerdings nie zeitgleich.
- In den meisten Fällen treten dissoziative Störungen bei Menschen vor dem 30. Lebensjahr auf. Dabei sind Frauen rund dreimal häufiger betroffen als Männer.
- Je nach Schwere der Störung kann eine Therapie den Betroffenen dabei helfen, ihr Leben so zu führen, dass es nicht massiv von der Dissoziation beeinträchtigt wird. Der Psychotherapeut oder die Psychotherapeutin hilft dem Patienten/der Patientin dabei, die verschiedenen Persönlichkeitsanteile zusammenzuführen oder zu erreichen, dass die einzelnen Identitäten miteinander kommunizieren. Wenn die Betroffenen sich aller Anteile bewusst sind, können sie Stück für Stück ein Gefühl von Identität entwickeln.
Dissoziative Identitätsstörung: Betroffene leiden oft unter einem Trauma
Die Göttinger Psychotherapeutin Dr. Michaela Huber sagt, die Störung entstehe, wenn sich die Seele eines Menschen in höchster Not zu retten versucht. Auch bei Robert Oxnam wirkte möglicherweise solch ein Mechanismus: Während seiner Therapie wird ihm bewusst, dass er in seiner Kindheit regelmäßig sexuell missbraucht wurde. Um das Leid zu ertragen, spalteten sich "Helferpersonen" ab. Durch die Augen von Bob, Robbey oder Wanda konnte er Distanz zu den schrecklichen Erlebnissen gewinnen – als seien sie einem anderen Menschen widerfahren. Fast alle multiplen Persönlichkeiten haben traumatische Erfahrungen gemacht, meint Huber. Eine neue Studie der Universität Groningen offenbart, wie tiefgreifend die Folgen sind: Mithilfe von bildgebenden Verfahren konnten die niederländischen Wissenschaftler zeigen, dass sich die Störung auch im Gehirn widerspiegelt: Jede „Persönlichkeit“ nutzt andere Hirnregionen, um bestimmte Eindrücke zu verarbeiten. Für die Wissenschaftler ein Beweis dafür, dass die Betroffenen tatsächlich verschiedene Identitäten besitzen und nicht einfach nur zwischen intensiven Stimmungen wechseln.
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Warum die Diagnose "multiple Persönlichkeit" schwierig sein kann
Allerdings herrscht unter Fachleuten Uneinigkeit über das Krankheitsbild. Der Hamburger Psychiater Prof. Klaus Dörner bemängelt etwa, dass sich die "multiple Persönlichkeit" zu einer Modediagnose entwickelt habe. In seinen Augen leidet nur ein kleiner Teil der so diagnostizierten Patienten tatsächlich unter einer echten Persönlichkeitsspaltung. Die Erinnerungen an ihr vermeintliches Trauma seien ihnen in vielen Fällen im Nachhinein eingeredet worden. Auch der renommierte Heidelberger Psychologieprofessor Peter Fiedler warnt, dass "therapeutische Verfahren wie etwa Hypnose im Verdacht stehen, falsche Erinnerungen auslösen zu können". Klar ist jedoch, dass Menschen wie Robert Oxnam unter der Fragmentierung ihrer Identität leiden. Laut Michaela Huber können Traumatherapeut:innen helfen, mit den Problemen umzugehen. Auch Oxnam wurde viele Jahre behandelt. Indem er sich der abgespaltenen Erinnerungen bewusst wurde, konnte er die meisten seiner "Persönlichkeiten" miteinander verschmelzen. Nur Robert, Wanda und Bobby sind übrig geblieben – gemeinsam versuchen sie nun, die Bruchstücke ihres Lebens wieder zusammenzusetzen.
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