Wie hilfreich ist eine Online-Therapie? Psychische Belastungen können in der Corona-Krise verstärkt werden. Die wichtigsten Fragen über die Wirksamkeit von digitaler Therapie.
Wie hilfreich ist eine Online-Therapie? Funktioniert psychologische Beratung auch digital?
Wer sich psychisch belastet fühlt, sucht in Deutschland vergeblich nach einem Therapieplatz. Die durchschnittliche Wartezeit für eine Psychotherapie betrug laut Bundespsychotherapeutenkammer im Jahr 2018 etwa 19,9 Wochen. Online-Therapie stellt eine Alternative dar und überbrückt die Zeit mit einem niedrigschwelligen Angebot. Seit Inkrafttreten des Digitalen Versorgungsgesetzes 2019 arbeiten das Ministerium für Gesundheit und die regulative Behörde intensiv an der Umsetzung digitaler Therapie. Die Ärztin und Therapeutin Dr. Alexandra Widmer arbeitet für ein Unternehmen, das solche Therapieunterstützungsprogramm
Man kann lernen, sich selbst besser zu verstehen, eingefahrene Denk- und Verhaltensmuster zu erkennen und zu hinterfragen.
Dr. Alexandra Widmer, Oberärztin und klinisch-therapeutische Leitung von GAIATweet
Beratung ist jetzt dringender als je zuvor: Soziale Isolation verstärkt Ängste und Depressionen
EMOTION: Wie wirkt sich Isolation auf psychische Erkrankungen?
Dr. Alexandra Widmer: Bei Patienten mit Depressionen kann der abrupte Wegfall von Alltagsroutinen zum Verlust der Tagesstruktur und zu noch größerem sozialen Rückzug führen. Die aktuellen negativen Nachrichten liefern Menschen, die an einer Angststörung leiden, quasi eine Vorlage für Traurigkeit und Gedankenkreisen. Patienten mit einer Zwangsstörung bekommen durch die ständige Aufforderung, sich die Hände zu waschen, noch mehr Kontroll-und Waschzwänge. Die Symptomatik, die schon da war, wird durch die Situation also noch mal verstärkt.
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Kann Online-Therapie die Lösung für generelle Probleme in der Psychotherapie sein? Zum Beispiel die langen Wartezeiten für Therapieplätze in Deutschland…
EMOTION: Wie beurteilen Sie die deutschlandweite Abdeckung mit Psychotherapie in Städten und auf dem Land?
Dr. Alexandra Widmer: Die Abdeckung der klassischen Psychotherapie, wo Therapeut und Patient*in sich gegenübersitzen, ist nicht nur von Stadt zu Land, sondern auch von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Die Wartezeiten variieren von wenigen Wochen bis hin zu einem Jahr. Auf etwa 6,2 Millionen Erwachsene, die in Deutschland jährlich an einer unipolaren Depression erkranken, kommen um die 28.000 Therapeut*innen. Wir bei GAIA haben mit über 10.000 Patient*innen in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht, wirksame und evidenzbasierte Beratungstechniken telefonisch und online einzusetzen. Natürlich fehlt einem manchmal der taktile Kanal, um eine Person noch besser erfassen zu können. Doch was ist die Alternative? Gar nicht mit ihm zu sprechen und darauf zu warten, dass die Angststörung oder Depression des Patienten chronisch wird?
Eine Beziehung und Nähe können sowohl per Telefon und sogar per Chat aufgebaut werden.
Dr. Alexandra Widmer, Dr. Alexandra Widmer, Oberärztin und klinisch-therapeutische Leitung von GAIATweet
Online-Therapie als Alternative für zu Hause
Dr. Alexandra Widmer: Unser Ziel ist es so schnell und niedrigschwellig wie möglich mit dem Patienten ins Gespräch zu kommen. Vielen Menschen in Deutschland haben kein Konzept von Psychotherapie bzw. schämen sich noch immer stigmatisiert zu werden. Wir erreichen sie sprichwörtlich “auf ihrem Sofa” und begleiten sie zurück ins aktive Leben. Das bedeutet in nicht wenigen Fällen übrigens auch, sich aktiv um die eigene psychische Gesundheit zu kümmern und einen Facharzt oder Psychotherapeuten oder eine Klinik aufzusuchen. Zuhause im Krankengeld zu sitzen ist keine Therapie - das kostet uns allen Beitrags- und Steuergelder. Vor allem aber kostet es dem Patienten eine aktive, glückliche Teilhabe am Leben!
Wirksamkeit von Online-Therapie muss nachgewiesen werden
EMOTION: Was können Deprexis und andere digitale Anbieter?
Dr. Alexandra Widmer: Man kann durch die Software lernen, sich selbst besser zu verstehen, eingefahrene Denk- und Verhaltensmuster zu erkennen und zu hinterfragen. Muster, die einem auch in der aktuellen Corona-Pandemie meist noch mehr im Weg stehen. Dadurch ist es möglich, sich hilfreiche Sichtweisen anzueignen und so auch schon während dieser Corona-Zeit neue Wege vorzubereiten. Der Einsatz muss aber wie jede medizinische Maßnahme abgewogen werden. Zunächst muss man sich sicher sein, dass die Software nachgewiesen wirksam ist. Das geht nur mit randomisiert kontrollierten und publizierten Studien hoher Qualität, die nicht viele Anbieter vorweisen können. Gerade aktuell erleben wir, wie wichtig die Wissenschaft ist. Ebenso wichtig ist die Indikationsstellung: Passt es für den/die Patient*in?
Multiprofesionelle Betreuung durch Online-Therapie
EMOTION: Wie funktioniert die therapeutische Betreuung?
Dr. Alexandra Widmer: Wir verstehen uns als zusätzliches Angebot und binden unsere Patient*innen immer an Fachärzt*innen und bei Bedarf an Psychotherapeut*innen an. Wir helfen ergänzend, etwa bei sozialen Fragen oder praktischen Dingen wie bei der Suche eines neues Arbeitsplatzes Wir arbeiten in einem multiprofessionellen Team aus Psychologen, Sozialarbeitern, Therapeuten und Ärzten.
Digitale Angebote in der Corona-Krise schaffen Nähe
EMOTION: Lässt sich eine telefonische bzw. digitale Betreuung auch nach der Corona-Krise aufrecht erhalten?
Dr. Alexandra Widmer: Wir machen sehr gute Erfahrungen mit der Beratung per Telefon, ergänzt durch erwiesen wirksame Online-Therapieprogramme, und können gerade in der aktuellen Corona-Krise den Patient*innen auch zu Hause eine Unterstützung bieten. Ich denke, dass das auch in Zukunft noch ausgebaut werden wird. Wenn Therapeut*in und Patient*in medienaffin sind und sich vertrauen, spricht nichts dagegen, sich so etwa auch Themen wie der Traumatherapie zu nähern.
Berücksichtigung von Datenschutzmaßnahmen
EMOTION: Welche Datenschutzfragen wirft eine Therapiesitzung via App, Telefon oder Videochat auf?
Dr. Alexandra Widmer: Je nach Kanal gibt es unterschiedliche Voraussetzungen, die man sich im Einzelfall anschauen muss. Wichtig ist, dass der Patient ausführlich über das genutzte Medium und den Datenschutz aufgeklärt ist und dem schriftlich zugestimmt hat. Was gar nicht geht ist das Daten zu werbezwecke verkauft werden wie es bei Diagnosesoftware ADA wohl der Fall war.
Zukünftige Möglichkeiten der Online-Therapie
EMOTION: Wie sehen digitale Therapiemethoden der Zukunft aus?
Dr. Alexandra Widmer: Eine spannende Frage. In letzter Zeit haben viele Psychotherapeut*innen erstmals neue Erfahrungen mit digitalen Kanälen in der Behandlung gemacht. Ich bin sicher, dass auch der Einsatz digitaler, wissenschaftlich erforschter Therapieprogramme Standard werden wird. So wie ein Arzt ein Medikament verschreibt, werden auch Therapeut*innen diese Programme bald auf Rezept verordnen können.
EMOTION: Wann können mehr Menschen digital betreut werden?
Dr. Alexandra Widmer: Das können sie schon jetzt. Und wir hoffen, dass durch das neue Digitale Versorgungsgesetz ab Sommer digitale Gesundheitsanwendungen von Ärzten und Psychotherapeuten auch verordnet werden können. Das zugehörige digitale Versorgungsgesetz ist im Dezember 2019 in Kraft getreten. Das Ministerium und die regualtive Behörde arbeiten jetzt intensiv an der Umsetzung. Zu beachten ist, dass der Markt der Gesundheits-Apps mittlerweile immer mehr wächst und dass nicht jedes Produkt die vom Gesetz geforderten Standards erfüllt, um von den Krankenkassen erstattet zu werden. Hinzu kommt, dass sich leider viele Anbieter vor allem in der Qualität ihres Marketings differenzieren. Wir haben hier die gleiche Problematik wie bei Arzneimitteln - es wird Mist auf den Markt gedrückt. Sieht nett aus, wird chic beworben, wirkt aber nicht.
Dr. Alexandra Widmer ist Oberärztin und klinisch-therapeutische Leitung der GAIA AG. Ein Unternehmen, das sich für die integrierte Versorgung in den Bereichen psychische Erkrankungen, Immunologie und Rückenschmerzen einsetzt. Im Rahmen der Digitalisierung von Patientenprogrammen wurde die Online-Therapie deprexis entwickelt.