Wir kennen sie alle, die unzertrennlichen Paare, die jeden Satz mit "Wir..." beginnen. Kann so was auf Dauer gut gehen? Oder brauchen Paare Freiräume? Die Antwort auf beide Fragen ist: Ja! Denn wir brauchen Nähe und Freiheit. Wie viel, das muss man aushandeln.
Die bessere Hälfte
"Darf ich meinen Freund mitbringen?" Eine Frage, die vermutlich alle kennen, die schon mal zum Geburtstag eingeladen haben. Irgendein Gast ist immer dabei, der oder die nicht einen Abend ohne seine gefühlte zweite Hälfte verbringen kann. Oft sind es gerade die Paare, die eh zusammen wohnen, jede Nacht in einem Bett schlafen und sich nicht nur in Corona-Zeiten von morgens bis abends sehen. Warum kleben die so aneinander? Bedeutet Beziehung nicht eigentlich eine Verbindung von zwei Menschen? Was macht das mit ihnen und der Liebe, wenn zwei so ganz miteinander verwachsen? Und durch die ständige Nähe immer weiter verwischt, wo die eine aufhört und der andere anfängt? „Es ist ganz natürlich, dass sich Menschen nach Verschmelzung sehnen“, sagt Dr. Sandra Konrad, Psychologin und Paartherapeutin. „Wir kennen diese enge Verbundenheit aus der frühesten Kinderzeit, in der wir uns idealerweise sicher, geliebt und geborgen gefühlt haben“, sagt sie.
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Irgendwann wächst der Wunsch nach Autonomie
Symbiose sei ein ganz altes Motiv, schon in der griechischen Mythologie gibt es bei Platon die Geschichte der Kugelmenschen – Wesen mit zwei Köpfen und vier Armen und Beinen, die der Sage nach von den Göttern getrennt wurden. Seitdem sind sie auf der Suche nach ihrer anderen Hälfte, der sprichwörtlichen „besseren Hälfte“, die uns vermeintlich erst als ganz fühlen lässt. Auch heute wird uns in Filmen und Romanen der Mythos von inniger Zweisamkeit vermittelt. Und das Gefühl, von einem anderen Menschen vollständig verstanden und akzeptiert zu werden, ist wunderschön und tröstlich.
Inzwischen gibt es viel mehr Beziehungsmodelle, die den Wunsch nach Freiraum zulassen.
Maria PreußTweet
„Oft suchen Paare gerade am Anfang der Beziehung viel Nähe“, sagt Konrad, doch fast unweigerlich kommt irgendwann der Punkt, an dem der Wunsch nach Autonomie wachse. Inzwischen gibt es viel mehr Beziehungsmodelle, die den Wunsch nach Freiraum zulassen. „Unkonventionellere Beziehungsformen werden heute weniger stigmatisiert“, sagt Sandra Konrad. „Menschen können offen sagen, dass sie getrennte Schlafzimmer haben, in einer offenen Beziehung oder in WGs zusammen leben. Living Apart Together – also zusammen sein, aber getrennt wohnen – kommt immer häufiger vor, oft allein schon bedingt durch den Job.“
Kann es zu viel Freiraum geben?
Für Janine, 50, und Friedrich, 54, ist Living Apart Together die beste, vielleicht einzige Möglichkeit, ihre Beziehung konfliktfrei zu leben. Beide hatten aus ersten Ehen pubertierende Kinder, als sie zusammenzogen. Drei Jahre lang lebten sie zu fünft – dann hielt Janine, die als Erzieherin arbeitet, Friedrichs strengen Erziehungsstil nicht mehr aus. Und obwohl er für Janine die große Liebe ist, beschlossen sie auseinanderzuziehen. Seitdem können sie sich auf ihre gemeinsame Leidenschaft für klassische Musik konzentrieren und ihren großen Kreis an Freund*innen pflegen, aber es gibt keinen Streit mehr über Erziehungsmethoden. Seit zehn Jahren ist das Paar so miteinander glücklich.Aber: Kann es ein Zuviel an Freiraum geben? „Das kommt auf das Paar an“, sagt Sandra Konrad. „Wenn die Bedürfnisse sehr unterschiedlich sind, kann es Konflikte geben. Jedes Paar muss seine jeweilige Wohlfühltemperatur aushandeln.“ Der erste Schritt ist dabei: klären, was beide unter Nähe überhaupt verstehen. Das kann nämlich ganz unterschiedlich sein. Manche Menschen fühlen sich nah, wenn sie gemeinsam Fahrrad fahren, andere brauchen intensive Gespräche. Oder das Gegenteil: gemeinsames Schweigen. Manche Männer fühlen sich vor allem über Sexualität nah und verbunden, weil sie nur so körperliche Nähe und Geborgenheit erleben. Für Frauen ist es selbstverständlicher, Berührungen und Nähe auch in der Familie und im Freundeskreis zu spüren. Etwas, das die erlernten Geschlechterrollen mit sich bringen und sich hoffentlich ändere, sagt Konrad.
Was wollen wir überhaupt voneinander?
Und was machen Paare, die sich im Alltag aus den Augen verloren haben? Gerade junge Eltern kennen das Problem. „Sie sollten sich darüber klar werden, dass sie auch die Beziehungspflanze pflegen müssen. Nicht nur alles drumher um.“ Wenn Paare sich auseinander gelebt haben und damit unglücklich sind, empfiehlt Konrad: „Fragen Sie sich: Was wollen wir überhaupt voneinander – und miteinander? In was haben Sie sich damals verliebt? Was ist davon übrig, was hat sich verändert? Und was sind die gemeinsamen Wünsche und Ziele?“ Klar ist das einfacher, wenn beide ein ähnliches Nähebedürfnis, ähnliche Werte und Lebensvorstellungen haben.
Eigentlich ganz einfach: Paare sind am glücklichsten, wenn sie nett zueinander sind. Ganz unabhängig davon, ob sie sich ähnlich sind oder gleiche Hobbys haben.
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"Wenn die eine sich eine Großfamilie wünscht und der andere am liebsten allein ist, wird es schwierig“, sagt Konrad. Und die Interessen? Wenn beide gern dasselbe machen, entsteht erst gar kein Konflikt: ins Kino oder zum Fußballspiel? Aber man kann auch Kompromisse eingehen und dem anderen damit ein Geschenk machen – solange man sich nicht für den anderen aufgibt. Denn das funktioniert auf lange Sicht für beide eher nicht.
Menschen mit geringem Selbstwertgefühl passen sich eher an
Wie bei Eva und Paul, beide Mitte 30. Die Berliner Psychologin und der Unternehmer teilten die Liebe für Kunst. Aber Eva begann, die Dinge, die nur sie interessierten, immer mehr hintanzustellen und zum Teil aufzuge ben. „Ich glaube, ich wollte seine Anerkennung und ihm zeigen: Ich bin wie du, ich bin so cool wie du“, erzählt sie. Konrad sagt: „Menschen mit geringem Selbstwertgefühl neigen dazu, sich dem anderen anzupassen.“ Bei Eva führte das dazu, dass sie sich irgendwann nicht mehr wie sie selbst gefühlt hat. Sie trennte sich, um wieder zu sich zurückzufinden. Eine Trennung oder ein Seitensprung sind oft der letzte Ausweg für Menschen, deren Bedürfnis nach Autonomie in der Beziehung nicht erfüllt wird. Eine noch häufiger gewählte Methode, um sich einem Zuviel an Nähe zu entziehen: streiten. „Gerade jetzt erzählen mir viele Paare, dass sie sich häufiger in die Haare kriegen. Das hat aber manchmal gar nichts mit dem anderen zu tun. Sondern mit zu viel unfreiwilliger räumlicher Nähe und vor allem mit fehlender Autonomie.“
Bedürfnisse können sich verändern
Die Bedürfnisse nach Nähe und Autonomie können sich über die Zeit auch ändern. Am besten schauen sich Paare dann an, wie sie ihre Beziehung daran anpassen können. Lea, 28, und Fabian, 29, sind seit elf Jahren zusammen. Einige Jahre davon hat Lea in England verbracht, während Fabian in Hamburg war, jetzt wohnen sie seit drei Jahren zusammen – und haben eine offene Beziehung. „Nicht, weil wir genug voneinander haben“, sagt Lea, die als Beraterin arbeitet, „sondern vor allem, weil wir ganz viele Erfahrungen nicht gemacht haben.“ Sie haben gemeinsame Hobbys, einen gemeinsamen Bekanntenkreis – aber geben sich den Freiraum, sich für sich zu entwickeln, auf die eigene Art.
„Fabian hatte nach seinem Bachelorabschluss eine mittlere Lebenskrise und wollte etwas ganz anderes studieren“, erzählt Lea. „Erst hatte ich den Impuls, ihn zu mikromanagen und nach Studiengängen für ihn zu gucken. Aber dann dachte ich: Nee, der ist doch erwachsen.“ Die offene Beziehung funktioniere, weil sie beide schauen, wer wann was braucht: Wollen sie sich alles erzählen oder lieber gar nichts? „Diese Regeln standen nicht von Anfang an fest, die haben wir erst mit der Zeit entwickelt.“
"Wir wollen uns guttun – das ist unsere Gemeinsamkeit"
Sich gemeinsam weiterentwickeln – das geht aber auch mit viel Nähe. Alisha, 26, und Valentin, 30, waren eineinhalb Jahre zusammen auf Weltreise, haben sich monatelang jeden Tag rund um die Uhr gesehen. „Durch die Reise sind wir erst recht ein Team geworden. Als wir uns kennenlernten, waren wir uns gar nicht so ähnlich und hatten nicht viele gemeinsame Hobbys. Ich war zum Beispiel ein Tagmensch, Valentin ein Nachtmensch. Aber wir wollen uns gegenseitig guttun, das ist unsere Gemeinsamkeit.“ Die Wissenschaft gibt ihr da recht: Ähnliche Eigenschaften sind gar nicht so wichtig für Beziehungszufriedenheit. Es ist eigentlich ganz einfach: Paare sind am glücklichsten, wenn sie nett zueinander sind. Und ob sie dabei verschmelzen oder lieber ausgesprochen eigenständig leben – das müssen sie miteinander ausmachen.
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