Toxische Männlichkeit kennen wir alle – und finden wir alle schlimm. Es gibt aber auch eine toxische Weiblichkeit. Sie nährt sich aus Neid, sozialem Druck und überzogenen Rollenerwartungen. Zeit für ein Detox, findet unsere Autorin.
Ein Gift, das aus Vergleichssucht destilliert wird
Du kennst sie. Wir alle kennen sie. Die Frauen, die dich mit ihren super Jobs! Männern! Kindern! Brüsten! unter Druck setzen. Frauen, deren Glück nicht deins ist. Sie strahlen dich an, schenken dir Herzchen, winken dir zu. Und du strahlst und winkst zurück und fühlst dich dabei total elend. Was ist das bloß? Ich sag’s ungern: Es ist Neid, auch Girl Hate genannt. Ein Gift, das aus Vergleichssucht destilliert wird und uns all unser Wohlwollen raubt. Spätestens dann, wenn wir in einer Krise stecken und dennoch die übliche Superwomanhaftigkeit verströmen sollen. Oder müssen? Gestehen wir es uns ein: Es gibt ein weibliches Pendant zur „toxischen Männlichkeit“ – jenem stereotypen, rückwärtsgewandten Rollenideal vom harten Kerl (das auch Männer fertigmacht und das von der feministischen Kritik zu Recht angeprangert wird).
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Toxische Weiblichkeit wirkt im Verborgenen
Toxische Männlichkeit ist die Antwort auf die Frage, warum Männer nicht über ihre Gefühle reden, sondern sich volllaufen lassen, zu Autobahnrasern werden und Kriege führen, warum schon kleine Jungs als Vergewaltiger in die Tagesschau kommen; sie ist die Antwort auf die Frage, wie es sein kann, dass ein Irrer mit gelber Haartolle und brathähnchenbraunem Teint vier Jahre lang das Weiße Haus besetzte. Der britische Feminist Jack Urwin nennt toxische Männlichkeit eine „übertriebene Zurschaustellung von Verhaltensweisen und Handlungen, die man als männlich erachtet.“ Genau das Gegenteil gilt für die toxische Weiblichkeit. Ihr Gift wirkt im Verborgenen. Man sieht es nicht, man hört es nicht. Man spürt den Schaden erst, wenn er angerichtet ist. Die toxische Weiblichkeit lächelt – wie Marie Kondo beim Hemdenfalten.
Über die Autorin: Dr. Rebekka Reinhard ist Philosophin, stellvertretende Chefredakteurin des Philosophie-Magazins "Hohe Luft" und Autorin mehrerer Bücher. In ihrem neuesten, "Zentrale der Zuständigkeiten" beschäftigt sie sich mit den immer größer werdenden Anspruch an Frauen, von Karriere bis Kind alles haben zu können und gibt den Leserinnen 20 Überlebensstrategien mit auf den Weg.
"Zentrale der Zuständigkeiten" von Dr. Rebekka Reinhard, 240 Seiten, 18 Euro, ISBN: 978-3-453-28147-9, erhältlich im Buchhandel oder online.
Wenn es um andere Frauen geht, sind wir mit Klischees und Positiv-Sexismen schnell bei der Hand.
Girl Hate – das Produkt eines emotionalen Kapitalismus
Kulturgeschichtlich ist der Neid als Fürst der Galle bekannt – jenes gelbgrünlichen Organs, das Hippokrates einst dem cholerischen Temperament zuordnete. Choleriker gelten als unzufrieden, leicht reizbar, aggressiv. Und Cholerikerinnen? Die gibt’s nicht. Die darf es nicht geben. Aggression ist tabu, und Girl Hate erst recht. Wir sind doch alle Schwestern, haben uns doch alle lieb in unserem Perfektionismus, müssen uns doch alle lieb haben! Oje. Wenn es um andere Frauen geht, sind wir mit Klischees und Positiv-Sexismen schnell bei der Hand. Wir werfen Empathie, emotionale Intelligenz und Moral in einen Topf und rühren alles zu einem süßlichen Brei. Quasi als Beweis für unsere „Güte“. Dabei sind wir nicht im Geringsten moralischer als andere Geschlechter. Und nicht „besser“ als Männer. Als kapitalistisch sozialisierte Superwoman hat man uns das Gift spätestens im Kindergarten injiziert. Früh wirst du darauf abgerichtet, deine Rivalinnen abzuchecken, dich mit ihnen zu vergleichen, selbstvermarktungskonform zu lächeln und deinen Neid in deiner rosa Haarschleife zu verstecken. Girl Hate ist das Produkt eines „emotionalen Kapitalismus“, der, wie die Soziologin Eva Illouz erklärt, berufliche wie private Beziehungen auf die Logik von wirtschaftlichen Austauschprozessen reduziert. Überall geht es um Angebot und Nachfrage, um Haben statt Sein. Wer hat am meisten? Der emotionale Kapitalismus will nicht, dass du in deinesgleichen Schwestern siehst. Du sollst dich nicht mit anderen Frauen solidarisieren, sondern in jeder eine Bitch sehen, mit der du konkurrieren, mindestens gleichziehen, die du am besten aber übertrumpfen sollst. Übertrumpfen musst? Und zwar dadurch, dass du erst mal shoppen gehst: Klamotten, Enzyme, Concealer, Fitness-Bikes. Von wegen „Diversity“!
Social Media befeuert Girl Hate – und macht süchtig
Der digital gewordene emotionale Kapitalismus bringt dich dazu, dich ständig und überall zu „connecten“, um die Nachfrage nach deinem Produkt (= dir selbst) zu erhöhen, deine Bilder und andere persönliche Daten zu veröffentlichen und die Welt upzudaten über all die aufregenden Dinge, die du erlebt hast, gerade erlebst und noch erleben wirst. Social Media sind das CNN des Girl Hate. Sie triefen nur so von toxischer Weiblichkeit. Alle lächeln. Auf Instagram heißt „authentisch“, seinen Neid zu verbergen. Die Verwendung des Hashtags #neid zeigt an, dass man natürlich gar nicht neidisch ist, sondern bebt vor Bewunderung! Soziale Medien machen süchtig. Vergleichssüchtig. Erfolgssüchtig. Süchtig nach Bewunderung.
Lasst uns der toxischen Weiblichkeit den Kampf ansagen!
Auf einer tieferen Ebene ist Girl Hate das Symptom einer narzisstischen, auf unendliches Wachstum getrimmten Post-Nachkriegsgesellschaft, der nie wirklich Grenzen gesetzt wurden – bis gerade eben. Und die trotzdem weitermacht wie bisher. Als dürfe und müsse es trotz Erderwärmung, Flutkatastrophen, Feuersbrünste und Kriege weiterhin alles geben, nur kein Ende des Schneller, Weiter, Höher. Und nun die gute Nachricht: Neid hat einen Sinn! Das gelbe Gift will dir etwas sagen. Nämlich: dass es dich irgendwann auffressen wird. Beginne also, dein Leben zu ändern – oder deine Vorstellung von dir selbst. Beides hängt untrennbar zusammen. Wenn du dein Leben änderst, siehst du dich anders, und wenn du dich anders siehst, ändert sich dein Leben. Akzeptiere deine Mängel. Hilf mit, den Girl Hate aller Girls auszumerzen. Lass uns der toxischen Weiblichkeit den Kampf ansagen – alle zusammen!
Niemand kann dich so sehr schätzen, wie eine andere Frau es kann. Denn niemand kann dich so gut verstehen
Dr. Rebekka ReinhardTweet
Wir müssen lernen, einander als Menschen anzusehen
Dein, mein, unser Neid ist nie nur persönlich. Unser Neid aufeinander zeigt an, was in dieser Gesellschaft
schiefläuft. Schluss mit der Rivalität, dem sozialen Druck, der Selbstdarstellerei, dem falschen Lächeln. Wir brauchen eine Grundreinigung des Systems. Wenn wir einander als Menschen sehen lernen, können wir aufhören mit der sinnlosen perfektionistischen Superwoman-Nummer. Denn dann kapieren wir, dass wir nicht allein sind. Dass es eigentlich ganz leicht ist, einander wertzuschätzen. Wir alle sind einzigartig, wir alle sind vieles. Und zwar aus den unterschiedlichsten Gründen. Merke: Die Wertschätzung einer anderen Frau ist etwas überaus Kostbares. Niemand kann dich so sehr schätzen, wie eine andere Frau es kann. Denn niemand kann dich so gut verstehen. Deine Verletzlichkeit, deine Traurigkeit. Deine Stärke.
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