Ein Mann darf keine Emotionen zeigen: Mit diesem Bild wuchs Podcaster Souheil Thabti auf. Das loszulassen, war sein Befreiungsschlag, erzählt er hier.
Der erstgeborene Sohn
Meine Eltern stammen aus Tunesien. Mein Vater kam als Gastarbeiter Anfang der 1970er nach Deutschland. Ich wurde 1984 in Wolfsburg geboren und wuchs in einer tunesisch-muslimischen Gemeinschaft auf. Ich war jeden Tag in der Moschee. Das hat mich geprägt. Ich wurde als Erstgeborener erzogen. Zum Beispiel musste ich nie in die Küche gehen, weil mir alles gebracht wurde. Ich habe von klein auf das Gefühl von Besonderheit vermittelt bekommen. Doch ganz so einfach war es nicht. Mein Papa war nämlich kein Pascha und ist sehr wohl in die Küche gegangen, kochte und half im Haushalt.
Das religiöse Helfersyndrom
Als junger Mann hörte ich in der Moschee oder bei religiösen Gesprächen oft: Männer sollen den "armen, schwachen Frauen helfen". Was positiv klang, hatte zur Folge, dass Frauen auf mich minderwertig wirkten. Sie waren "'aura", was Scham oder Angriffsfläche bedeutet. Frauen sind die Schwachstelle für den Mann und die Familie. Sie müssen bedeckt werden, um den Ruf der Familie zu wahren und keine Schande auf sich zu ziehen.
Männlichkeit war für mich immer mit Stärke verknüpft. "Ich traue mich nicht", gab es nicht. Das hat mich aber auch geschützt. Als Kind habe ich viel körperliche Gewalt aus meinem Umfeld erfahren, dank dieser Stärke konnte ich mir einreden, dass nichts und niemand mich brechen kann. Bis ich selbst fast daran zerbrach.
Der Zusammenstoß zweier Welten
Ich habe Jura und Islamwissenschaften studiert und mich mit 21 Jahren verlobt. Mit meiner Verlobten kamen die ersten Herausforderungen: Meine Religion diktierte meinen Alltag und natürlich auch, wie ich dachte, dass meine Beziehung funktionieren würde. "Die Frau kocht", sagte ich. "Kannst du vergessen", hat sie gesagt. "Wir kriegen jetzt Kinder", sagte ich. "Ich will erst mal studieren", sagte sie. Damals nahm ich meine Frau als feministischen Menschen wahr, der mir Paroli bieten konnte. Ich begann, Dinge mehr zu hinterfragen. Warum ist unsere Beziehung bei manchen Themen nicht so harmonisch? Warum gibt mir meine Religion keine gute Antwort?
Als unser Sohn auf die Welt kam, wurden die Herausforderungen größer. "Souheil, was ist los mit dir?", fragte mich meine Frau. "Du bist immer geduldig mit dem Kind, aber dann verlierst du plötzlich komplett die Fassung." Mit dem zweiten Sohn häuften sich diese Situationen. Ich rutschte in eine schwere Depression, kam nicht mehr aus dem Bett, konnte meine Frau nicht mehr unterstützen. Schließlich kam ich in stationäre Behandlung.
Die Dualität der Gefühle
Dort fand ich heraus, dass mir mein Männlichkeitsbild im Weg stand: Männer sind stark und haben keine Emotionen. Dabei sind wir Menschen, das bedeutet eine Dualität der Gefühle. Mal stark, mal schwach, mal traurig, mal fröhlich. Ich aber bin damit aufgewachsen, eine Seite nicht zuzulassen. Die Unterdrückung meiner Emotionen und das in mir verankerte Männlichkeitsbild waren meine Krux. Beides loszulassen, mein Befreiungsschlag.
Heute versuche ich meinen Jungs beizubringen: Gefühle sind wichtig, sie müssen Raum bekommen, dann hat man eine gute Haltung sich selbst und der Welt gegenüber. Ich will mich meiner männlichen Attribute wie Stärke, Klarheit, Entscheidungsfreude nicht berauben. Männlichkeit vermag es, alles erlauben zu können. Seiner Frau den Raum zu geben, dass sie sich so entfalten kann, wie sie möchte. Dann ist Männlichkeit wunderschön, weil sie der Weiblichkeit den Boden bereitet, komplett aufzublühen.
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 3/23.
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