Manchmal muss man ein Thema erst richtig verstehen, um es angehen zu können. Zum Beispiel: Selbstwert. Coachin Julia Breuer erklärt, wie man sein Selbstwertgefühl verbessern kann. Und was die drei Selbstbilder, die wir alle von uns selbst haben, damit zu tun haben.
Wenn wir über Selbstwertgefühl sprechen, kommen wir nicht umhin, auch über unsere Selbstbilder nachzudenken. Nach der Selbstdiskrepanztheorie von Higgins (1987) wird unser Selbstwertgefühl durch drei Selbstbilder geprägt, die wir im Laufe unseres Lebens entwickeln:
- das Bin-Ich (unser aktuelles Selbstbild),
- das Soll-Ich (die Vorstellung davon, wie wir sein sollten)
- und das Wunsch-Ich (die Vorstellung davon, wie wir gerne wären, wenn es keine Bedingungen gäbe, um die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen).
Über die Coachin:
Julia Breuer ist Wirtschaftspsychologin, transaktionsanalytische Beraterin und systemische Coach. Ihr Angebot bezieht sich auf die Unterstützung und Begleitung von Menschen in privaten und/oder beruflichen Veränderungs- und Entwicklungsprozessen. Schwerpunkt ihrer Arbeit ist unter anderem das Thema erhöhte Neurosensitivität (Hochsensibilität) im Business.
So beeinflussen unsere Selbstbilder uns
Das Bin-Ich steht für das aktuelle Selbstbild, das wir von uns haben. Darin spiegeln sich sowohl positive als auch negative Facetten unserer Persönlichkeit. Im verzerrten Bin-Ich finden sich negative Glaubenssätze wieder, zum Beispiel "Ich bin nicht liebenswert" oder "Ich bin eine Versagerin".
Das Soll-Ich hingegen repräsentiert Ansprüche und Selbstbewertungsregeln, die wir uns im Laufe unseres Lebens angeeignet haben und die die Vorstellung davon darstellen, wie wir vermeintlich sein müssten, um wertvoll zu sein. Häufig sind diese Ansprüche übermächtig und setzen uns unter enormen Druck. Etwa ein überzogener Leistungsanspruch an uns selbst oder ein überhöhter Perfektionismus.
Das Wunsch-Ich bildet eine Vorstellung davon ab, wie wir gerne wären, wenn es möglich wäre, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, ohne dabei fremde Bedingungen erfüllen zu müssen. Oftmals ist diese Vorstellung nur vage erkennbar, insbesondere wenn wir uns frühzeitig eher nach den Vorstellungen anderer gerichtet haben.
Selbstbild-Diskrepanzen können Selbstzweifel auslösen
Viele Menschen kommen meiner Erfahrung nach ins Coaching, weil sie – nicht selten in der Mitte ihres Lebens – merken, dass sie unzufrieden sind, etwas verändern wollen. Sie sind zum Beispiel erschöpft von einem Leben, das sie zu sehr anstrengt oder sie haben das Gefühl, nur nach den Ansprüchen im Außen zu leben. Oder dass ihr Leben nicht (mehr) wirklich zu ihnen passt. Oft ist ihnen klar, was sie nicht mehr möchten (etwa Stress), aber nicht, wie sie das erreichen können. Im Coaching möchten sie herausfinden, was sie (wieder) mehr oder anders in ihrem Leben möchten und wie das gelingen kann.
Hinter diesen Herausforderungen, die sich auf ganz unterschiedliche Weise zeigen können, stecken oftmals Widersprüchlichkeiten zwischen den oben beschriebenen Selbstbildern. Während kleinere Diskrepanzen zwischen den drei Selbstbildern zu Veränderung motivieren können, können aus größeren Diskrepanzen Selbstwertprobleme entstehen. Im Coaching lässt sich wirkungsvoll an der Kongruenz der Selbstbilder arbeiten.
Selbstsicherer werden – so kann der Weg aussehen
Ein Beispiel: Lena, 35 Jahre alt, hat vor kurzem einen Burnout erlebt und befand sich zu Beginn des Coachings in einer Phase der beruflichen Neuorientierung. Sie fühlte sich jedoch blockiert und unsicher in Bezug auf ihre zukünftigen Schritte. Im Coaching wurde deutlich, dass Lenas Selbstwert stark beeinträchtigt war. Das hinderte sie daran, ihre eigenen Bedürfnisse und Ziele ernst zu nehmen und zu verfolgen. Im Coaching nahmen wir ihre unterschiedlichen Selbstbilder unter die Lupe und es stellte sich heraus, dass Lenas Soll-Ich von übermäßig hohen Ansprüchen an sich selbst geprägt war. Sie fühlte sich verpflichtet, den Erwartungen anderer gerecht zu werden, und hatte das Gefühl, nie gut genug zu sein. Das führte wiederum zu einem negativ verzerrten Bin-Ich, in dem sie sich selbst als unfähig und minderwertig wahrnahm.
Im Laufe des Coachings ging es darum, Lenas Selbstbewertungsregeln zu reflektieren und zu erkennen, dass sie ihr Soll-Ich neu definieren konnte. Bereits die Bewusstwerdung darüber hat sehr häufig ein Gefühl der Selbstwirksamkeit zur Folge, was wiederum die ersten Veränderungen möglich macht. Mit Hilfe von gezielten Fragen konnte Lena erkennen, dass viele der Ansprüche, die sie an sich selbst stellte, gar nicht ihren eigenen Werten entsprachen. Sie begann, diese vermeintlichen Anforderungen an sich selbst zu hinterfragen und ihre eigenen Werte und Bedürfnisse stärker zu spüren. Im Laufe des Prozesses erkannte sie, dass sie nicht den Erwartungen anderer entsprechen muss, um sich wertvoll zu fühlen.
Gleichzeitig fasste sie den Mut, ihr Bin-Ich realistischer und positiver zu gestalten, indem sie ihre Stärken und Erfolge anerkannte. Lena begann außerdem, ihr Wunsch-Ich zu erkunden. Sie stellte fest, dass sie sich in der Vergangenheit nie die Zeit genommen hatte, darüber nachzudenken, wie sie gerne sein und leben würde, wenn sie sich frei entscheiden könnte. Das war ein entscheidender Schritt, um ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu erkennen und Schritt für Schritt in ihr Leben zu holen.Durch die Arbeit mit den verschiedenen Selbstbildern gewann Lena Klarheit und Selbstvertrauen. Sie erkannte, dass sie sich nach einem erfüllenden und authentischen beruflichen Weg sehnte, der im Einklang mit ihrem Wunsch-Ich stand. Sie begann, sich nach und nach von den einschränkenden Glaubenssätzen ihres Soll-Ichs zu lösen und sich mehr auf ihr authentisches Bin-Ich und ihr erstrebenswertes Wunsch-Ich auszurichten. Sie wurde zuversichtlicher und begann, ihre eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen, indem sie mutige Entscheidungen traf und schließlich die beruflichen Schritte unternahm, die ihren eigenen Zielen und Werten entsprachen.
Indem wir uns bewusst mit unseren Selbstbildern auseinandersetzen und an einer gesunden Selbstwahrnehmung arbeiten, können wir uns selbst erlauben, zu wachsen und unsere Erfüllung zu finden.
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