Der Gemüsemann, die Postbotin, die Frau, die man ab und zu auf der Hundewiese trifft: Mit all diesen Leuten führen wir Mikrobeziehungen, die zwar kaum über freundliche Plaudereien hinausgehen, aber uns Halt geben können wie eine feste Partnerschaft.
Er war immer da, ganz in meiner Nähe. Ich bin ihm knapp zehn Jahre lang treu gewesen. Meistens jedenfalls. Er wusste, was ich wollte, bevor ich es ihm sagte, er kannte die Namen meiner Hunde, sie bekamen Kaustreifen aus der Tüte von ihm und zu Weihnachten schenkte er mir jedes Jahr Kekse mit Zuckerguss. Er lachte darüber, dass ich einen Hang dazu habe, ständig mein Handy zu verlieren. Ich freute mich, dass er extra für mich Energydrinks in bizarren Sorten wie Kaktusfrucht im Regal hatte. Adnan war der Kiosk-Mann meines Herzens. Und jetzt? Bin ich umgezogen. Innerhalb derselben Stadt – aber ich wohne mehr als zweieinhalb Kilometer von Adnans kleinem Laden entfernt und darum gehe ich nur noch selten hin. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Es ist traurig, aber ich fürchte, mein Wohnortswechsel ist das schleichende Ende unserer – ja, was eigentlich? Adnan und ich haben uns zwar fast täglich gesehen, aber immer nur in seinem Kiosk. War das eine Bekanntschaft minus? Oder eher eine Geschäftsbeziehung plus? Ich habe bei ihm schließlich tausende Energydrinks gekauft. Allerdings weiß Adnan mehr über meinen Alltag als meine Tante Waltraud.
Wie nennt man solche Bekanntschaften?
Wie definiert man diese Verbindungen, die flüchtig erscheinen, aber den grauen Alltag oft um mindestens fifty shades heller machen? Für Beziehungen zwischen Menschen, die mehr oder weniger Sex miteinander haben, gibt es diverse Definitionen: Freundschaft plus, LAT- Beziehung ("Living Apart Together"), Ehe, Affäre, "Größter Fehler meines Lebens" und so weiter. Bei tendenziell platonischen Verbindungen unterscheiden wir wiederum zum Beispiel zwischen Kolleg:innen, Bekannten und Freund:innen.
Aber wo bleibt Adnan in all diesen Definitionen? Und all die anderen unverbindlichen Kontakte oder zufälligen Begegnungen, die den Alltag oft so unvermittelt, aber nachhaltig bereichern – manchmal sogar über Jahre? Mikrobeziehungen, so nennt sie eine Freundin, die sich auskennt. Bei Google findet sich zu diesem Begriff keine weiterführende Erläuterung. Im Gegensatz zu "Submarining", "Benching" oder "Mosting" – Begriffe, die für eher unschöne Varianten menschlicher Interaktion stehen. "Mikro", das klingt klein, aber "Beziehung", das heißt Verbundenheit. Die Bedeutung dieser Verbindungen, die das Label Mikrobeziehung zusammenfasst, wird im Großen, Ganzen und auf Google unterschätzt, wie es scheint.
Mikrobeziehung – nicht mehr & nicht weniger
Zum Glück nicht von der Autorin Katja Kullmann. In ihrem Buch "Die Singuläre Frau" (Hanser, 24 €), das vom Dasein als Frau ohne romantische Zweierbeziehung handelt, beschreibt sie die wunderbare Wirkung der flüchtigen Verbindungen. In unserem Gespräch beschreibt sie diese so: "Ich spreche von Mikro-Gefährtinnenschaften, die sich immer mal wieder situationsbedingt ergeben und aus denen nicht mehr werden muss, vielmehr: gar nicht mehr werden soll. Ihre Zartheit und Begrenztheit ist ja gerade das Besondere an ihnen."
Der Schnack mit dem Bäcker, der über die Bestellung "zwei Franzbrötchen, bitte" hinausgeht. Das bereichernde Gespräch mit der Mitreisenden im Zug. Oder die Bankerin von gegenüber, die sich mit Pralinen fürs Pakete-Annehmen bedankt – solche Begegnungen sind ungeplant, unbeschwert und helfen uns, außerhalb der selbst gesteckten Inner Circles in pöbelfreien, erfreulichen Kontakt kommen (und häufig gelingt das sogar).
Auch oberflächliche Beziehungen machen uns glücklich
"Wer die Zufallszwischenmenschlichkeit zulässt, legt automatisch auch viele Vorurteile gegenüber anderen ab", sagt Katja Kullmann. "Es muss doch auch gar nicht immer 'alles' voneinander gewusst werden!" Scheinbar oberflächliche Begegnungen provozieren selten Tränen, aber oft ein Lächeln.
Am Anfang ihres Daseins als überzeugt ungebundene Frau habe sie nicht nur den Wert langjähriger Freundschaften neu entdeckt, sondern auch den Reiz von oberflächlicheren Bekanntschaften, erzählt Katja Kullmann. "Ob das nun ein Plausch mit der Nachbarin ist, die 20 Jahre älter ist – und plötzlich erkennt man: Wir interessieren uns beide für moderne Kunst, warum nicht in die eine oder andere Ausstellung gehen? Oder es ergibt sich mal ein Kaffee mit einer Frau aus dem Sportverein, weil das Training plötzlich ausfällt – sie mag zwar ein ganz anderes Leben führen, mit zwei kleinen Kindern, aber sie mag dieselbe Musik wie man selbst. Wenn sie jemanden sucht, der sie auf ein Konzert begleitet ... warum nicht? Es muss ja nicht gleich ein superenges Band daraus werden."
Katja Kullmann spricht aus Erfahrung, wenn sie sagt: "Gerade solche vermeintlich 'losen' Verbindungen halten oft sehr lange, mitunter länger als romantische Paarbeziehungen.“
Frei von gesellschaftlichen Definitionen & Ansprüchen
An dieser Stelle kommt eine weitere Expertin ins Mikrobeziehungs-Spiel: Die Hamburger Kulturwissenschaftlerin Kirstine Fratz forscht seit Jahren zum Thema Zeitgeist und beschäftigt sich auch mit dem Ideal der romantischen Liebe – und mit deren Scheitern. Sie sagt: "Die monogame Zweierbeziehung soll in der heutigen Gesellschaft jedes Bedürfnis nach Nähe, Verständnis und Anerkennung befriedigen. Aber das sind völlig überfrachtete Erwartungen, denen die Realität nur selten standhalten kann." Mikrobeziehungen sind dagegen völlig frei und unbelastet von gesellschaftlich definierten Ansprüchen: "Freundliche Begegnungen mit flüchtigen Bekannten bilden in der Summe eine bedeutende Achse in unserem sozialen Leben", sagt Kirstine Fratz.
Ein Beispiel: Morgens hat man mit dem Mann gestritten, jetzt quengelt das Kleinkind, die Nerven liegen blank. Aber an der Sandkiste steht die Mutter, die auch so oft hier auf dem Spielplatz ist. Wie heißt sie noch? Nicht wichtig. Sie weiß genau, wie sich das Leben zwischen Ermattung und Euphorie anfühlt – und sie hat Kekse dabei. "Solche Begegnungen sorgen für kurzfristiges Wohlbefinden, in der Summe aber auch für langfristige Ausgeglichenheit", sagt Fratz. Sie sieht in alltäglichen Begegnungen eine stützende Struktur, die teils die Funktionen von Paarbeziehungen übernehmen kann. Selbstbestätigung, Verständnis, Aufmerksamkeit – und Aufmunterung. Und das auf einer unverbindlichen, stressfreien Ebene.
Katja Kullmann erzählt im Gespräch übrigens auch von ihrem persönlichen Kiosk-Mann: "Wenn ich Stress habe, Augenringe, klebrige Haare, sieht er es sofort, fragt, ob alles in Ordnung ist oder heitert mich mit albernen Sprüchen auf." Und auch ich selbst habe nach meinem Umzug nach neuen unverbindlichen Verbindungen in meinem Biotop gesucht, die meinen Alltag bereichern wie früher Adnan. Auf eine andere Art. Evi zum Beispiel, die Kneipenwirtin aus dem Erdgeschoss meines Wohnhauses. Sie ist Mitte 60, trägt Kajalstrich und Blumen im Haar, ist gnadenlos ehrlich und hat überhaupt keine Hemmungen, halbtrockenen Krimsekt auszuschenken. Deshalb bestelle ich bei ihr lieber Bier. Am Tresen ihrer Seemannskneipe sitzt jeden Dienstag der Kommissar, der so heißt, weil er mal einer war, jetzt ist er Pensionär und wir würden sicher gemeinsam rauchen, wenn wir nicht zufällig beide gerade damit aufgehört hätten. Letzte Woche hat er versucht, mir Skatspielen beizubringen. Das hat nur halb funktioniert, aber was ich gelernt habe: Ich hab Bock drauf.
Die schöne Unverbindlichkeit
Vielleicht gehe ich morgen wieder zu Evi. Oder auch nicht. Der Kommissar wird auch nächste Woche wieder da sein. In Beziehungen und Freundschaften hat das Sich-nicht-festlegen-wollen nichts zu suchen. In freundlich gesinnten Alltagsverbindungen ist es bis zu einem gewissen Grad auch die Unverbindlichkeit, die sie zu etwas Besonderem macht.
Wer also mit offenem Herz durchs Leben und durchs Viertel geht, kann an fast jeder Ecke Menschen finden, die den Alltag auf unerwartete Art bereichern. Das klingt jetzt ein bisschen pathetisch – aber: So isses.
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 05/23.
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