Du kannst alle Folgen von "Friends" mitsprechen und hast die "Harry Potter"-Bücher schon fünfmal gelesen? Glückwunsch, dann machst du alles richtig – oder vielleicht auch nicht.
Ja, vielleicht fühle ich mich beim Schreiben dieser Zeilen ein wenig selbst ertappt: Die Auswahl an Filmen und Serien auf Streamingplattformen war nie größer und trotzdem weiß ich bereits jetzt, dass ich heute Abend mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wieder irgendeine Folge von "Friends" zum zwölften Mal ansehen werde. Gleichzeitig schiele ich auf den Stapel in meinem Zimmer mit vielen neuen Büchern, die ich alle noch lesen will. Auf meinem Nachttisch liegt aber auch ein Harry Potter Buch, das ich wahrscheinlich auch schon zum fünften Mal in meinem Leben lese – und bei dem ich eigentlich genau weiß, was darin als nächstes passiert. Warum ist das so, dass manche Menschen bei ihrem Konsum von Medien zu echten Wiederholungstäter:innen werden und lieber auf bekannte Bücher, Serien und Filme zurückgreifen, als sich auf neue Geschichten einzulassen?
Warum lesen wir Bücher mehrmals und schauen immer wieder dieselbe Serie?
Das Phänomen an sich ist ja nicht ganz neu und eigentlich dürften wir es alle auch noch aus unserer Kindheit kennen: Denn schon Kleinkinder haben häufig ein bestimmtes Lieblingsbilderbuch, aus dem sie sich immer und immer wieder vorlesen lassen wollen. Warum? Weil sie diese eine bestimmte Geschichte einfach lieben und sie niemals davon gelangweilt sein könnten. Eigentlich total plausibel: Warum sollte man auch etwas, das einem offensichtlich gefällt, nach dem ersten "Gebrauch" links liegen lassen? Mit Musik ist es ja nicht anders: Neue Songs werden doch erst nach dem zweiten oder dritten Hören so richtig gut, bis wir sie irgendwann in Dauerschleife hören.
Und trotzdem beschleicht mich ja irgendwie ein schlechtes Gefühl, wenn ich durch Netflix scrolle und doch wieder mich mit einem Klick doch wieder in die altbekannte Friends-Welt befördere, anstatt mich für eine neue Serie zu entscheiden – auch wenn ich von Freund:innen oder von Kritiken weiß, dass diese total gut sein soll. Dieses Gefühl, dass der Wiederholungkonsum von Büchern oder Serien im Erwachsenalter irgendwie nicht akzeptabel ist. Bin ich dadurch vielleicht nicht offen genug für Neues? Muss ich nicht mitreden können, wenn sich andere in meinem Umfeld über den neuen Spiegel-Bestseller oder eine neue hochgelobte Serie unterhalten?
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Comfort Binge: Wenn sich unsere Lieblingsserie wie eine Umarmung anfühlt
Zumindest beruhigt es mich zu wissen, dass ich mit dem Verhalten nicht die Einzige bin. Denn es gibt für das Phänomen, Serien mehrfach anzuschauen, sogar eine Bezeichnung: "Comfort Binge". Die hat die amerikanische Journalistin Alexis Nedd erstmals in einem Artikel für das Online-Magazin "Mashable" fallen lassen. Ihre Kernaussage: Beim Comfort Bingeing ginge es darum, mit minimalem Aufwand maximales Vergnügen zu erhalten. Niemand, der sich altbekannte Serien wieder anschaut, erwarte ernsthafte Unterhaltung. Oder dass die Gehirnzellen dadurch besonders stimuliert werden. Stattdessen ginge es um den Wohlfühlfaktor und darum "sich in Dinge einzuwickeln, die sich gut anfühlen", schreibt Nedd. Sich berieseln lassen. Häufig würden wir mit den Charakteren in unserer "Comfort Binge"-Serie auch am liebsten selbst befreundet sein. Und da ist etwas dran: Wenn ich "Friends" einschalte und plötzlich gemeinsam mit Rachel, Chandler und Phoebe auf einer Couch sitze, dann fühlt sich das fast so an, als würde ich zu alten Bekannten zurückkehren. Ich muss sie nicht erst kennenlernen oder an sie gewöhnen, sondern weiß ganz genau, wie sie ticken. Und das hat etwas äußerst Tröstliches und Beruhigendes.
Studie: Wer Bücher doppelt liest, sehnt sich nach sozialen Bindungen
Und genau diese vertrauten sozialen Bindungen scheinen auch Menschen zu suchen, die Bücher mehrfach lesen. Das haben zumindest die Psychologin Lauren M. Ministero und ihr Team in der neueren Studie "Back where I belong: Rereading as a risk-free pathway to social connection" herausgefunden. Die rund 700 befragten Teilnehmer:innen gaben an, dass sie sich in ihrem Umfeld wenig zugehörig fühlen oder persönlichem Stress ausgesetzt waren. Sich immer wieder mit bekannten Erzählungen in Büchern zu beschäftigen kann ein Mittel sein, um unerfüllte soziale Ziele zu erreichen. Laut Studie ginge es für die Leser:innen darum, eine sichere Bindung zu den Charakteren aufzubauen, die sie immer wieder aufs Neue erfahren können – und die sie nicht beängstigt oder gefährdet, sondern ihnen das Gefühl von sozialer Zugehörigkeit vermittle.
Bücher können uns nostalgisch machen
Abgesehen von der Tatsache, dass ich meine sozialen Bindungen eigentlich als gesund und stabil einschätzen würde, veranlassen mich persönlich auch ganz andere Gründe dazu, zum zigsten Mal ein Harry Potter Buch aufzuschlagen. Nostalgie zum Beispiel: Wenn ich in die vertraute Buchwelt eintauche, dann ruft das immer auch Erinnerungen hoch – an das Gefühl, das man beim ersten Mal Lesen des Buches hatte. Oder an eine bestimmte Zeit, in der man das Buch zum ersten Mal hatte. Warum sonst blättern so viele Menschen gerne durch ihre Lieblingsbücher aus der Kindheit? Weil diese sie in die Zeit zurückversetzen, die sie vielleicht mit besonders positiven Erinnerungen verbinden. Oder weil ihnen das Buch damals ein gutes Gefühl gegeben hat.
Manchmal lese ich ein Buch aber auch einfach gerne nochmal, weil mir bestimmte Handlungen entfallen sind oder ich mich gar nicht mehr genau daran erinnere, was eigentlich passiert ist. Dann ist es ein besonders schönes Gefühl, das nochmal erleben zu dürfen. Oder mir fallen beim zweiten und dritten Lesen Details auf, die mir beim ersten Lesen entfallen sind. Bestimmte Verknüpfungen in der Handlung oder Sätze, die sich mir erst beim erneuten Lesen erschließen. Kann es also vielleicht nicht auch viel bereichernder sein, sich mit Büchern durch mehrfaches Lesen besonders intensiv zu beschäftigen?
Wir lesen falsch. Wir lesen zu wenig selektiv und zu wenig gründlich.
Rolf DobelliTweet
Warum das mehrfache Lesen von Büchern sogar sinnvoll sein kann
Diese Idee teilt zumindest auch der Schriftsteller Rolf Dobelli. Er spricht sich sogar ganz bewusst dafür aus, Bücher mehrmals zu lesen und kritisiert die schnelle Lesekultur unserer Zeit: "Wir lesen falsch. Wir lesen zu wenig selektiv und zu wenig gründlich. Wir lassen unserer Aufmerksamkeit freien Lauf, als wäre sie ein zugelaufener Hund, den wir gleichgültig weiterstreunen lassen, anstatt ihn auf prächtige Beute abzurichten". Was sei der Sinn davon, in unserem Leben so viele Bücher wie möglich zu lesen, wenn am Ende kaum etwas hängen bleibt? Dobelli schätzt den "Wirkungsgrad" eines Buches nach dem zweiten Lesen um zehnmal höher ein als beim einmaligen Lesen. Lieber ein Buch mit voller Hingabe genießen, anstatt eins nach dem anderen konsumieren – die Idee gefällt mir. Denn irgendwie ist das Leben doch auch zu kurz für schlechte Bücher (oder Serien und Filme). Warum also nicht einfach bei den Guten bleiben?
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