An ADHS kann jede:r erkranken. Dennoch hält sich weiterhin das Vorurteil, dass hauptsächlich Männer betroffen seien. Die falsche oder meist zu späte Diagnose bei Frauen kann schlimme Folgen haben.
Dieser Artikel erschien zuerst bei Refinery29
Ich habe ADHS – und ich bin eine Frau
Denken sie an ADHS, haben die meisten Leute das Bild von einem hyperaktiven Jungen im Kopf, den sie auch gern Zappelphilipp nennen. Das ist einer, der nicht still sitzen kann und in der Schule durch mangelnde Impulskontrolle immer wieder auffällig wird. Die eigentliche Tragik liegt dabei aber nicht nur in der Ignoranz gegenüber der Diversität der Symptome, sondern vor allem in dem Umstand, dass diese Annahme auf klinischen Studien beruht, die in den 70er-Jahren ausschließlich mit weißen Jungen durchgeführt wurden. Anhand dieser Forschung wurden Diagnosekriterien entwickelt, die bis heute gelten. Aber nur zur Erinnerung: Es sind inzwischen fast 50 Jahre vergangen! Aber verändert hat sich überraschend wenig, insbesondere im deutschen Raum. Ich habe aber trotzdem ADHS. Und ich bin eine Frau.
Manchmal werde ich gefragt, wie sich ADHS anfühlt. Ein bisschen wie den ganzen Tag To-Do Listen zu schreiben, bis man am Abend dann eine To-Do Liste über To-Do Listen hat, die man am nächsten Morgen wegwirft.
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ADHS kennt kein Geschlecht – trotzdem werden Mädchen viel seltener diagnostiziert
In den USA und auch hierzulande sind in den letzten Jahren zunehmend professionelle Stimmen laut geworden, die einen neuen Aspekt der Forschung in den Mittelpunkt rücken: ADHS kann potenziell alle Menschen treffen und kennt kein Geschlecht. Die Inzidenzrate liegt trotzdem noch bei 1:7, auf sieben neu diagnostizierte Jungen kommt also nur ein neu diagnostiziertes Mädchen. Besonders unterschiedlich in Bezug auf das Geschlecht ist auch der Zeitpunkt der Diagnose. Frauen bekommen bis ins Erwachsenenalter falsche Diagnosen oder erfahren ihr ganzes Leben lang nicht, was mit ihnen los ist. Die Wahrscheinlichkeit, durch die Störung ein niedriges Selbstbewusstsein zu entwickeln und an Depressionen zu erkranken, ist hoch. Wir müssen also dringend mehr über Frauen und ADHS reden.
Warum wird ADHS bei Frauen so oft nicht diagnostiziert?
Stellt man sich ADHS als eine Störung vor, die auf den drei Säulen Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität basiert, entwickeln Frauen mit ADHS tendenziell eher Symptome im Bereich der Aufmerksamkeit. Jungen zeigen im Gegensatz zu den Mädchen häufig ein auffälliges Verhalten nach außen, besonders mit Impulskontrolle, Aggressivität und Wut haben sie typischerweise Schwierigkeiten. Aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisierung, die schon sehr früh beginnt, neigen Mädchen dazu, ihre Verhaltensauffälligkeiten mit Coping-Mechanismen zu unterdrücken – um den Erwartungen von Gesellschaft und Bezugspersonen trotzdem zu entsprechen. Expert:innen sprechen dabei von einer "Maskierung" der Symptome. Diese Mechanismen führen dazu, dass die Störung bei betroffenen Frauen lange nich erkannt wird. Häufig wird eine ADHS-Diagnose nur zufällig gemacht, wenn bei Patientinnen durch destruktive Bewältigungsstrategien Folgeerkrankungen wie Depressionen, Ess- oder Angststörungen auftreten.
Was macht es mit Frauen, wenn sie so lange nicht diagnostiziert werden?
Viele Frauen mit ADHS leiden auch im Erwachsenenalter an einem konstanten Gefühl von Überforderung und können dieses oftmals nicht begründen, weil ihnen die Diagnose und damit leider auch die Möglichkeit zur Krankheitseinsicht fehlt. Frauen neigen sozialisierungsbedingt dazu, die Verantwortung für ihre Probleme zuallererst bei sich selbst zu suchen – die Ursachen werden also internalisiert. Für Betroffene hat das weitreichende Konsequenzen.
Vielen ADHS-lern wird seid ihrer Jugend erzählt, dass sie dumm seien oder anstrengend, nervig, chaotisch, krank, faul oder abnorm. Diese Dinge fressen sich wie eine Säure in eine Seele, die ohnehin schon komplett überfordert ist mit sich selbst. Was folgt sind, Selbsthass und tiefe Verunsicherung. Für viele Betroffene ist es deshalb schwer, sich selbst zu mögen.
Kathrin WesslingTweet
Viele Dinge, die für Nicht-ADHSler alltäglich sind, stellen für betroffene Frauene ine große Belastung dar: Einkaufen, Termine, Telefonate, Freundschaften und Beziehungen. Manche berichten, dass sie sich auf Parties oder in Gesellschaft schnell überfordert fühlen. Sie leiden unter Reizüberflutung oder dem Gefühl, Lautstärke ungeschützt ausgeliefert zu sein. Sie haben Probleme mit dem Organisieren oder eben dem genauen Gegenteil: Einer zwanghaften Fokussierung auf Planung als Kompensation der eigenen Defizite.
Symptome von Frauen nehmen mit fortschreitendem Alter tendenziell zu
Im Unterschied zu Jungen, deren Symptome im Laufe der Pubertät eher rückläufig sind, nehmen die Symptome bei Frauen in dieser Entwicklungsphase zu. Aus Unwissenheit werden sie aber häufig als für Pubertätsrebellion abgetan. Die Verletzungen, die aus der Missachtung der Symptome bei den betroffenen Mädchen entstehen, hinterlassen oft tiefe Spuren. Während Jungen mit ADHS ihre Symptome in diesem Alter typischerweise externalisieren (mit nach außen gerichteter Aggression), neigen die betroffenen Mädchen dazu, alles in sich hineinzufressen und Gefühle von Selbsthass zu entwickeln
Meine eigene ADHS-Erkrankung
Ich hatte eine sehr behütete Kindheit. Ich war ein gesundes und glückliches Kind, das bevorzugt mit älteren Jungs aus der Nachbarschaft abhing. Dabei konnte ich aus Sicht der Erwachsenen am lautesten "rumkommandieren", was aus heutiger Perspektive eine ziemlich abwertende Bezeichnung für ein selbstbewusstes Mädchen war. Ich war allerdings mutig. Aber auch eine Tagträumerin, die stundenlang in ihrem Zimmer Tiersticker sortieren oder Minipiano spielen konnte. Zuhause war ich sehr impulsiv. Ich habe die Wäscheleine im Affekt zerschnitten, das Fahrrad gegen die Wand geworfen und eine Schere im Kopf meines Bruders versenkt.
Nach der Einschulung wurden meine Charakterstärken, die vorher regelmäßig gelobt wurden, zu vermeintlichen Schwächen. Meine Ideen und meine Durchsetzungskraft wurden zu einem handfesten Defizit. Meinung galt nun als Aufsässigkeit. Hinterfragen war unangebracht. Der Frontalunterricht brach mir die Beine. Ich war total unterstimuliert. Das Lerntempo war an guten Tagen zu langsam und an schlechten Tagen viel zu langsam. Ich kann mich an Wochen erinnern, an denen ich in der Schule kein einziges Wort gewechselt habe, weil ich nur in die Leere hinter der Tafel starrte und vor mich hin träumte. Rasende Gedanken, aber von außen betrachtet schien ich zu schlafen. Die Frustration wuchs von Tag zu Tag.
In der Pubertät wurden meine Symptome schlimmer – ich kiffte, randalierte
In der Pubertät wurde die Impulsivität schlimmer. Ich erspare meinen Eltern die Details, hier alles noch einmal lesen zu müssen. Aber ich kiffte, randalierte. In der Schule verhielt ich mich unter größter Anstrengung immer unauffällig, was mir daheim unter den ständigen Provokationen meines älteren Bruders nicht gelang. Ich fand einen Weg das System zu betrügen, in welchem ich immerzu scheiterte, wenn ich so war wie ich nunmal war, und trotz meiner Intelligenz einfach nicht genügte. Meine Lösung lautete, nicht aufzufallen. Irgendwann war ich ein Meister der Tarnung. Niemandem was erzählen. Immer nur so viel preisgeben und leisten, dass man gerade so durchrutscht. Schule. Freundschaften. Abi. Studium. Das klingt einfach, aber es fraß meine ganze Kraft.
Heute weiß ich: Es war nichts falsch mit mir, ich habe nur ADHS
Rückblickend weiß ich, dass diese Selbstaufgabe unbewusst passierte. Ich wurde unsicher. Errötete schnell. Und steckte im totalen Rückzug. Meine Selbstzweifel wuchsen. Wieso bekam ich die einfachsten Dinge nicht auf die Reihe, wenn ich so war wie ich nunmal war? Gegenüber meinen Eltern tat ich allerdings selbstbewusst. Rückblickend ist es offensichtlich, welche Copingstrategien ich damals auffuhr und wie ich die Selbstzweifel dadurch einfach nur internalisierte und zu einem lebenslangen Begleiter machte.
Meine Diagnose bekam ich erst mit Mitte 20. Eher durch Zufall. Aufgrund meiner Depressionen und weil ich ausgeprägte Sozialängste entwickelt hatte. Ich wollte mich lieber nicht mit Menschen umgeben, weil ich immer das Gefühl hatte, dann nicht ich selbst sein zu können. Alles würde auffliegen. Was auch immer dieses "alles" war. Nach all den Jahren wusste ich es nicht mehr. Heute ist es mir klar. Es war nichts. Es war bloß ADHS bei Mädchen.
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