Gender Data Gap: Unsere Welt wird meist von Männern in Daten erfasst. Caroline Criado-Perez schreibt in "Unsichtbare Frauen" darüber - und wieso wir einen Wandel brauchen.
Gender Data Gap: Ganz schön vermessen!
Unsere Welt wird meist von Männern in Daten erfasst. Die dabei schlicht ignorieren, dass jeder zweite Mensch eine Frau ist. Seit unsere Kollegin über den Gender Data Gap recherchiert hat, sieht sie ihren Alltag anders. Eine Wutschrift.
Der Gender Data Gap und die Toilettenschlange
Nie wieder werde ich an der Toilette anstehen können, ohne an Caroline Criado-Perez zu denken. Dank der britischen Journalistin und Aktivistin ist mir endlich klar, warum wir Frauen wertvolle Stunden unseres Lebens in der Warteschlange vor dem Klo verbringen. Denn mal ehrlich: Es ist eine männliche Behauptung, dass wir ewig da rumhängen, um uns die Haare zu machen und Lippenstift nachzuziehen. Es staut sich schließlich nicht erst am Spiegel. Schuld an der lästigen Warterei – schuld an so vielen Dingen – ist der Gender Data Gap: Es gibt zu wenig frauenspezifische Daten. Um gendergerecht planen und bauen zu können, muss man möglichst viel Wissen über alle Geschlechter sammeln. Leider klafft die Datenlücke, die uns Frauen so fundamental betrifft, überall.
Der Gender Data Gap führt zur Nichtbeachtung weiblicher Bedürfnisse
Auf den ersten Blick scheint es fair, dass Architekten im öffentlichen Raum genauso viele Quadratmeter für männliche Waschräume vorsehen wie für weibliche. Das ist aber zu kurz gedacht. Denn Frauen benötigen naturgemäß mehr Zeit auf der Toilette: Wir können nicht einfach den Hosenschlitz öffnen und loslegen – wir müssen uns häufig aus komplizierten Kleidungsstücken schälen, oft mehrere Reißverschlüsse, Knöpfe und Gürtel öffnen, lose Ärmel festklemmen, Röcke raffen, uns aus Strumpfhosen schälen und diese wieder zurechtzuppeln. Das erfordert Zeit und Bewegungsfreiheit.
Abgesehen davon müssen wir dank der Menstruation häufig Hygieneprodukte wechseln. Das gängige Toilettendesign vernachlässigt zudem die (immerzu unterbewertete) weibliche Care-Arbeit: In der Regel sind es wir Frauen, die Kinder und Hilfsbedürftige mit aufs Klo begleiten. Kabinen sind also meist zu klein für unsere Bedürfnisse und so auch immer länger besetzt.
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Genderneutral ist nicht gleich gendergerecht
Trotzdem haben wir noch nicht mal genauso viele Klosetts pro Quadratmeter wie Männer, denn Pissoirs nehmen viel weniger Platz ein. Somit kommen deutlich weniger Männer auf eine Schüssel als Frauen. Genderneutral ist eben durchaus nicht immer gendergerecht, schreibt Caroline Criado-Perez in ihrem Sachbuch „Unsichtbare Frauen“ (btb, 15,00 €).
Die Revolte der unsichtbaren Frau
Seit Erscheinen des Buches auf Englisch im März 2019 gibt es die Toilettenrevolte auf Twitter, die die Schlangen vor Damentoiletten anprangert. Einige U-Bahn-Stationen und öffentliche Gebäude in England haben daraufhin bereits Herren- zu Damenklos umdeklariert. Es lebe die Revolte der unsichtbaren Frau! Ich bin auch eine von ihnen – dabei bin ich eigentlich gar nicht so leicht zu übersehen und mit 166 Zentimetern exakt so groß wie die durchschnittliche deutsche Frau. Aber ich bin leider eben kein Durchschnittsmann.
Der Standard-Mensch ist ein Mann
Der Standard-50-Perzentil-Mann gilt, wie ich jetzt weiß, als Standard-Mensch. Der „Referenzmann“, wie Criado-Perez ihn nennt, ist überall. Er ist schuld an zu hohen Arbeitsflächen in Küchen, an Supermarktregalen, die ich nicht erreiche und an automatischen Türen, die sich für mich nicht öffnen, ohne dass ich wild mit den Armen fuchtle. Neulich ertappte ich mich im Auto einer Freundin dabei, wie ich den Sicherheitsgurt völlig selbstverständlich mit der Hand weghielt, weil er mich in den Hals schnitt.
Automatiktüren, Autositze, Smartphones: alle nicht für Frauen gebaut.
Kristina Appel über den Gender Data GapTweet
Auch hier ist der Data Gap, der gerade in der Automobilindustrie frappierend ist, die Ursache: Dieses Auto wurde nicht für mich gebaut, sondern für einen Mann. Obwohl Frauen weniger häufig in Autounfälle verwickelt seien als Männer, schreibt Caroline Criado-Perez, erleiden sie 17 Prozent mehr unfallbedingte tödliche Verletzungen und haben ein wesentlich höheres Risiko, schwer verletzt zu werden. Warum? Weil die Fahrgastzellen für Männer gebaut werden.
Frauen fahren Auto in der falschen Position
Die meisten Frauen müssen den Sitz weiter nach vorne und oben verstellen, um Überblick über den Verkehr zu haben. Frauen, schreibt Criado-Perez, seien „Fahrer in falscher Position“. Das birgt die Gefahr, beim Aufprall eher innere Verletzungen und Beinverletzungen davonzutragen. Fahrerinnen sind außerdem dreimal mehr gefährdet, ein Schleudertrauma zu erleiden, weil die steifen Rücklehnen vieler Fahrersitze die leichteren Frauenkörper nicht abfedern können und ungebremst zurück nach vorne schleudern.
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Der weibliche Dummy sitzt maximal auf dem Beifahrersitz
Auch Autofahren wird für mich also nie mehr dasselbe sein. Seit „Unsichtbare Frauen“ weiß ich zu viel, etwa, dass ein Auto in der EU ganze fünf Sicherheitstests mit Crashtest-Dummys durchläuft – ein weiblicher Dummy muss dabei allerdings nicht eingesetzt werden. Der Durchschnitts-Dummy wird als Durchschnittsmensch gehandelt und der ist (das zieht sich durch unseren gesamten Alltag) eben ein Durchschnittsmann.
Der für die Tests genutzte „50-Perzentil-Mann“ ist 175 Zentimeter groß, wiegt 78 Kilo – und hat die Muskelverteilung und den Wirbelsäulenaufbau eines Mannes, beides unterscheidet sich deutlich vom Körperaufbau einer Frau. Der einzige Test, in dem ein „weiblicher“ Dummy verwendet wird, platziert ihn auf dem Beifahrersitz. Dieser „weibliche“ Dummy ist die 5-Perzentil-Frau, die 155 Zentimeter klein ist und 54 Kilo wiegt, von einer „Durchschnittsfrau“ kann man hier nicht reden. Dieser Dummy ist also keineswegs ein Repräsentant des durchschnittlichen weiblichen Körpers, sondern lediglich ein geschrumpfter männlicher Dummy.
Produkte für Frauen sind klein und rosa
„Shrink it and pink it“, nenne ich dieses Phänomen. Den Begriff habe ich von der US-Gründerin Lynn Le, die mit ihrer Firma Society Nine die weltweit ersten Boxhandschuhe exklusiv für Frauenhände entwickelt hat. Bis sie kam, galt in diesem Sport, wie fast überall auf der Welt: Brauchen wir ein Produkt für Frauen, machen wir es einfach kleiner und rosa. Beim Boxen ist das für Frauen schlicht gesundheitsgefährdend. Ein nicht gendergerechter Handschuh schlingert auf der Faust wie ein zu großer Helm auf einem Kinderkopf, und die Klett-Manschette bietet einem schmalen Handgelenk keine Stabilität.
Daten von Männern führen zu Produkten für Männer
Seit „Unsichtbare Frauen“ habe ich die Gewissheit, dass weniger meine kleinen Hände ein Problem im Alltag darstellen, als vielmehr die Tatsache, dass viele Dinge für Männerhände gemacht sind. Sei es bei Zwei-Liter-Getränkeflaschen, die ich nur mit zwei Händen halten kann, oder bei aktuellen Smartphone-Modellen.
Der weibliche Körper gilt als zu komplex und zu teuer für die Forschung
Kristina Appel über den Gender Data GapTweet
Apple hat sein letztes kleines Modell eingestellt. Mein neues iPhone 8 kann ich nicht mehr einhändig benutzen und in die Hosentasche passt es auch nicht mehr. Männer haben große Hände, große Taschen und bevorzugen große Displays. Und Entwicklerteams sind vorwiegend männlich.
Warum haben iPhones keine Menstruations-Tracker?
Deshalb kann die Health-App, die seit 2014 auf allen iPhones zu finden ist, auch so gut wie alles messen, was Man(n) brauchen kann, aber einen Menstruations-Tracker hat sie nicht. Dabei werden iPhones viel häufiger von Frauen gekauft als von Männern, hat Criado-Perez herausgefunden. Die Daten, die Apple zu uns vorliegen, werden demnach offenbar bewusst ignoriert. Jetzt sehe ich mein Smartphone mit anderen Augen.
Caroline Criado-Perez, "Unsichtbare Frauen", btb. Unsere Welt ist von Männern für Männer gemacht und tendiert dazu, die Hälfte der Bevölkerung zu ignorieren. Caroline Criado-Perez erklärt, wie dieses System funktioniert. Sie legt die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Erhebung wissenschaftlicher Daten offen. Die so entstandene Wissenslücke liegt der kontinuierlichen und systematischen Diskriminierung von Frauen zugrunde und erzeugt eine unsichtbare Verzerrung, die sich stark auf das Leben von Frauen auswirkt.
Die Daten werden oft erhoben aber übergangen
Manche Dinge könnte man recht schnell ändern, schreibt Criado-Perez, zum Beispiel die Rentenregelung und damit das existenzielle Problem der weiblichen Altersarmut. Frauen leisten alleine in Deutschland im Schnitt viereinhalb Stunden unbezahlte Care-Arbeit am Tag. Auch die Mutterschaft bedeutet einen langfristigen finanziellen Einschnitt.
Diese Daten werden längst erhoben. Aber dort, wo der Gender Data Gap bekannt ist, wird er oft übergangen.
„Zu komplex, zu variabel, zu teuer“
Die Alternative wäre schlicht zu kompliziert. So kompliziert wie der weibliche Körper. „Zu komplex, zu variabel, zu teuer“, bekam Criado- Perez mehrfach von Forschern zu hören. Geschlechtsspezifische Forschung scheint insgesamt lästig. Der weibliche Hormonhaushalt sei zu unvorhersehbar, sagen Wissenschaftler, zu volatil. Dass diese hormonellen Schwankungen dazu führen können, dass Medikamente in unterschiedlichen Phasen des Zyklus auch unterschiedlich wirken, wird ignoriert. Frauen passen in ihrer Komplexität eben nicht in eine Schablone.
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Frauen haben keine Priorität in der öffentlichen Gesundheit
Doof, dass sie andere Herzinfarktsymptome haben als Männer und auch ein anderes Schmerzempfinden, weshalb fast alle gängigen Schmerzstudien für die Tonne sind, weil sie an männlichen Mäusen und Probanden durchgeführt wurden. Oder gar nicht: Wie bei Viagra, also dem Wirkstoff Sildenafilcitrat. Dieser war ursprünglich eine große Hoffnung für die Behandlung von Menstruationsschmerzen, aber die Finanzierung wurde 2013 gestoppt und trotz neuer Anträge nicht erneuert. Dysmenhorrhoe hätte in Bezug auf die öffentliche Gesundheit keine Priorität. Tja, sie betrifft ja auch nur 50 Prozent der Weltbevölkerung.
Es braucht mehr weibliche Forschung und Investitionen
Ohne weiblich geführte Forschungsteams wird es immer fünfmal so viele Studien zu Erektionsstörungen geben wie zu PMS. Ohne weibliche Investoren wird weiterhin weniger Kapital in Gründerinnen investiert werden als in Gründer. Es macht mich wütend, aber das ist gut so: Mein Blick auf die Welt wird nie mehr derselbe sein.
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