Sechs Jahre lang wartete Mona Richter auf einen Therapieplatz. Als sie schließlich den entscheidenden Anruf bekam, war sie überglücklich. Endlich Hilfe. Rammiya Gottschalk, ihre Psychotherapeutin, kennt Geschichten wie diese gut. Zwei Jahre stehen Patient:innen bei ihr auf der Warteliste. Jetzt will sie gegen dieses System ankämpfen.
Content Note: Dieser Text behandelt Themen wie psychische Probleme, psychische Erkrankungen und Suizid.
Es begann mit einem Verdacht auf einen Herzinfarkt im Jahr 2014. Am Nachmittag war Mona Richter noch auf dem Geburtstag ihres Patenkindes, am Abend merkte sie dann: Irgendetwas stimmt nicht. Ziehen in der Brust, sie zitterte am ganzen Körper. "Wir müssen ins Krankenhaus", sagte sie zu ihrem Mann. Dort musste sie über Nacht bleiben, wegen eines auffälligen EKGs – und stark erhöhten Blutdrucks. Am nächsten Tag die Entwarnung: Es war kein Herzinfarkt, sondern ein extremer Erschöpfungszustand. Schon in den Wochen davor hatte sie gemerkt, dass etwas nicht stimmte, dass sie nicht sie selbst war, teilweise stundenlang saß sie weinend auf ihrer Couch. "Schon da wusste ich eigentlich: Ich kann nicht mehr", sagt sie im Gespräch mit EMOTION. Doch spätestens, als sie im Krankenhaus war, war Mona Richter klar: Sie braucht therapeutische Hilfe.
Die Wartezeiten für einen Therapieplatz sind lang
Laut Bundespsychotherapeutenkammer warten 40 Prozent der Patient:innen mindestens drei bis neun Monate auf einen Therapieplatz, bei 20 Prozent sind es sogar sechs bis neun Monate. Bei Mona Richter sollte es sechs Jahre dauern. In dem kleinen Ort in Nordrhein-Westfalen, in dem sie lebt, gibt es nur eine Psychotherapie-Praxis. Jeden Monat musste sie im Sekretariat der Praxis anrufen, ihren Bedarf an einer Therapie bekräftigen, damit sie nicht von der Liste rutscht. Sie setzte sich einen Kalendereintrag in ihrem Handy, um keinen Termin zu verpassen. "Das war sehr aufreibend. Ich habe jedes Mal, wenn ich dort angerufen habe, gehofft, dass mir gesagt wird: 'Wir haben jetzt einen Therapieplatz für Sie'."
Lange musste sie auf diesen Satz warten, erst 2020 war es soweit. In der Zwischenzeit hatte eine andere Therapeutin die Praxis übernommen – Rammiya Gottschalk. Als Mona Richter den Anruf bekam, in dem ihr gesagt wurde, dass sie zum Erstgespräch vorbeikommen könne, hatte sie Tränen in den Augen, so erzählt sie es heute. Davor war es ein ständiges Auf und Ab, jahrelang – zwischen depressiven Phasen, Angstzuständen und Alltag. "Wenn es gar nicht mehr ging, habe ich meinen Hausarzt angerufen. Der hat mich aufgefangen. Sonst habe ich einfach ausgeharrt", sagt sie.
"Es ist zu spät"
Rammiya Gottschalk kennt die Verzweiflung, die viele ihrer Patient:innen verspüren, weil sie so lange auf einen Therapieplatz warten müssen. Bei ihr sind es im Schnitt zwei Jahre, erzählt sie im Interview mit EMOTION. Das ist lange, im ländlichen Raum aber keine Seltenheit. Sobald sie einen freien Platz hat, geht Gottschalk ihre Warteliste durch, ruft die Patient:innen an. In den meisten Fällen freuen sich die Menschen am anderen Ende der Leitung, sind dankbar, dass sie nach langer Wartezeit endlich Hilfe bekommen. Aber ein Anruf hat sich besonders bei Gottschalk eingebrannt. Weil er so erschütternd war. "Es ist zu spät", sagte ihr die Witwe eines Mannes, der auf ihrer Liste gestanden hatte. Er hatte sich in der Zwischenzeit das Leben genommen. "Das war sehr schockierend. Und auch ein Schlüsselmoment. Denn ich wusste: Das kann nicht sein, da muss etwas passieren". Sie nahm sich vor, aktiv dafür zu kämpfen, dass Psychotherapien leichter und vor allem schneller zugänglich werden. Denn obwohl akut suizidale Patient:innen jederzeit ohne Wartezeit in der nächstgelegenen psychiatrischen Klinik aufgenommen werden können, will Gottschalk auch ambulante Psychotherapien besser zugänglich machen. "Damit man erst gar nicht so lange wartet, bis aus einer leichten depressiven Episode vielleicht eine schwere mit suizidalen Gedanken wird", sagt sie.
Knapp 18 Millionen Erwachsene sind laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde jedes Jahr von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das ist fast ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung. Dass Menschen mit psychischen Krankheiten so schnell wie möglich behandelt werden, ist wichtig. Je früher die Behandlung stattfindet, desto besser sind die Heilungschancen und desto milder der Verlauf, sagt Peter Henningsen, Direktor der Klinik für Psychosomatik am Münchner Klinikum Rechts der Isar dem Bayerischen Rundfunk. Von zeitnahen Behandlungen kann man, je nach Wartezeit, bei vielen Patient:innen aber nicht mehr sprechen, findet Gottschalk. Das Problem liegt an der zu geringen Zahl an Kassensitzen, sagt sie: "Es fehlt nicht an Psychotherapeut:innen, sondern an Psychotherapeut:innen, die gesetzlich versicherte Patient:innen behandeln können – also einen Kassensitz haben."
Der offizielle Bedarf spiegelt den tatsächlichen nicht wider
Wie viele Kassensitze es für Psychotherapeut:innen gibt, wird durch die sogenannte Bedarfsplanung festgelegt. Diese Erfassung wurde im Jahr 1999 durchgeführt, der damals ermittelte Bedarf gilt mit kleinen Änderungen bis heute. Grundlegend überarbeitet wurde die Bedarfsplanung also seit über 20 Jahren nicht. Dabei ist der heutige Bedarf an Psychotherapien laut Bundespsychotherapeutenkammer mit dem damaligen gar nicht mehr zu vergleichen. Die Kammer verweist auf Studien, die zeigen, dass sich der Bedarf an Psychotherapie in den vergangenen 20 Jahren fast verdoppelt hat. Die Ampel-Koalition kennt dieses Problem – und möchte sich eigentlich darum kümmern. Im Koalitionsvertrag von 2021 hielten die Regierungsparteien fest: "Wir reformieren die psychotherapeutische Bedarfsplanung, um Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz, insbesondere für Kinder und Jugendliche, aber auch in ländlichen und strukturschwachen Gebieten deutlich zu reduzieren." Bisher ist noch nichts passiert.
Für Gottschalk ist das unverständlich. "Wir warten schon viel zu lange auf die versprochene Reform", sagt sie. Deshalb hat sie sich vor wenigen Monaten dazu entschieden, eine Petition zu starten. Ihre Forderung an Gesundheitsminister Karl Lauterbach: Mehr Kassensitze für Psychotherapeut:innen und eine Reform der Kassensitzvergabe. Gottschalk selbst hat einen halben Kassensitz, arbeitet in Vollzeit – und hat trotzdem eine Warteliste von zwei Jahren.
Wie funktioniert das mit den Kassensitzen?
Psychotherapeut:innen mit einer eigenen Praxis können, meist von Vorgänger:innen, ganze oder halbe Kassensitze erwerben. Grundsätzlich werden Kassensitze von der Kassenärztlichen Vereinigungen vergeben. Dafür muss im Grunde nicht gezahlt werden. Die meisten Regionen in Deutschland werden gemäß der veralteten Bedarfsplanung allerdings als versorgt eingestuft. Offiziell gibt es genug Psychotherapeut:innen, also werden keine neuen Kassensitze vergeben. Manche Regionen sind offiziell sogar "überversorgt". Oft kaufen Psychotherapeut:innen deshalb Sitze von Kolleg:innen, die etwa in Rente gehen oder wegziehen.
Das kann ziemlich teuer werden. "Für einen halben Kassensitz zahlt man auf dem Land etwa 30.000 bis 40.000 Euro", sagt Gottschalk im Gespräch mit EMOTION. Wer einen halben Kassensitz hat, muss Kassenpatient:innen je nach Zugehörigkeit der Kassenärztlichen Vereinigung pro Woche mindestens 12,5 Therapiestunden anbieten und pro Quartal höchstens 390 Stunden. "Das sind umgerechnet sechs Patienten pro Tag", sagt Gottschalk. Bei Therapeut:innen mit einem vollen Sitz sind es mindestens 25 Stunden pro Woche beziehungsweise maximal 780 Stunden pro Quartal. Überschreitet man die obere Grenze, drohen Honorarkürzungen. Laut Gottschalk sei das bei einem vollen Sitz aber ohnehin unwahrscheinlich: "Wenn man einen vollen Kassensitz hat, kann man theoretisch bis zu 60 Therapiestunden pro Woche anbieten. Ich kenne niemanden, der pro Woche 60 Stunden nur Patienten behandelt. Vor- und Nachbereitung kommen ja noch dazu – da landet man selbst im Burnout."
Neben zusätzlichen Kassensitzen liegt die Lösung für sie deshalb darin, dass niedergelassene Psychotherapeut:innen mit vollen Kassensitzen Kolleg:innen anstellen, die parallel zu ihnen behandeln, um die maximale Stundenanzahl erreichen und so möglichst viele Patient:innen behandeln zu können. "Man muss sich das so vorstellen: Es gibt einige Psychotherapeuten, die grundsätzlich einen vollen Kassensitz haben, aber nur das Minimum, also lediglich die Pflicht-Therapiestunden, anbieten. Die restlichen Stunden, die noch abgerechnet hätten werden können oder die ein anderer Kollege übernehmen könnte, fallen dann einfach weg. Auf dem Papier sieht es wegen dem vollen Kassensitz so aus, als stünden genug Stunden zur Verfügung – obwohl es in Realität nicht so ist. Das ist ein Riesenproblem." Würden mehr Therapeut:innen andere Therapeut:innen anstellen, um möglichst viele Menschen behandeln zu können, wäre das ein großer Schritt, sagt Gottschalk. "Viele Psychotherapeuten lassen sich aber nicht so gern anstellen, weil der Verdienst nicht so hoch ist. Die Vergütung müsste also besser werden." Auch das fordert sie in ihrer Petition.
"Therapien muss man Fachärzten und Psychotherapeuten überlassen"
Gottschalks Forderungen decken sich in großen Teilen mit denen, die Fachleute seit vielen Jahren haben. Sie erfährt aber auch Kritik. In ihrer Petitionsbegründung schreibt Gottschalk: "Durch den Mangel an Psychotherapieplätzen besteht auch die Gefahr, dass Patient:innen vermehrt Heilpraktiker:innen oder ein Coaching aufsuchen, wobei es sich in den meisten Fällen jedoch nicht um eine störungsspezifische Richtlinientherapie nach den jeweils geltenden Bestimmungen der vertragärztlichen Versorgung handelt". Werner Weishaupt, der Präsident des Verbandes Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater e.V., sieht in Gottschalks Wortwahl Diskriminierung gegenüber therapeutischen Heilpraktiker:innen, wie er in einem offenen Brief schreibt.
Gottschalk wolle Heilpraktiker:innen oder Coaches ihre Kompetenz und Ausbildung auf keinen Fall absprechen, betont sie im Gespräch. "Aber die Ausbildung ist einfach nicht mit der eines Facharztes vergleichbar. Es ist natürlich gut, dass es Menschen gibt, die andere beraten – aber Therapien muss man Fachärzten und Psychotherapeuten überlassen. Heilpraktiker:innen sind nicht ausreichend ausgebildet, um evidenzbasierte Psychotherapie nach Richtlinienverfahren anzubieten. Ansonsten kann es zu Fehldiagnosen und -behandlungen kommen, das ist das Gefährliche daran. Jeder zehnte Patient von mir war schon bei einem Heilpraktiker und wurde dort nicht nach Richtlinientherapie behandelt."
"Ich hätte nie gedacht, dass es mir wieder so gut gehen wird"
Mittlerweile haben über 100.000 Menschen Gottschalks Petition unterzeichnet. Auch Mona Richter, ihre Patientin. Nach sechs Jahren Wartezeit hat sie mit Gottschalk in drei Jahren nicht nur ihre extreme Erschöpfung aufgearbeitet, sondern auch andere "Baustellen", wie sie es nennt – ihre Angstzustände und Panikattacken. Heute geht es ihr so gut, dass sie sogar wieder mit dem Auto auf die Autobahn kann. Früher wäre das undenkbar gewesen, sie hätte sofort eine Panikattacke bekommen.
"Die Therapie hat alles für mich verändert. Ich bin endlich wieder ich. Und ich hätte nie im Leben gedacht, dass es mir jemals wieder so gut gehen wird", sagt Mona Richter heute. Dass die sechs Jahre Wartezeit an ihr genagt haben, spürt man trotzdem noch. Für sie ist das auch der ausschlaggebende Grund, weshalb sie ihre Geschichte mit Medien und der Öffentlichkeit teilt. "Ich will den Krankenkassen und Ärzten klarmachen, wie lange man wirklich auf Therapieplätze wartet und wie es einem dabei geht. So, wie es oft dargestellt wird – dass man nur ein halbes Jahr wartet – ist es eben nicht. Jetzt muss endlich etwas passieren."
Hinweis: In Krisen kann man sich jederzeit und kostenlos an die Telefonseelsorge unter der Nummer 0800-111 0 111 und bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung jederzeit an den Notruf 112 wenden.
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