Noch immer ist es eine Gretchenfrage im Leben vieler Frauen – die Mutter aller Fragen, wenn man so will: "Will ich Kinder?" Und noch immer hat die Gesellschaft stellenweise Schwierigkeiten damit, wenn die Antwort auf diese Frage ein klares "Nein" ist. Obwohl immer weniger Frauen Kinder wollen. Woran liegt das? Und wie ist das für jemanden, der sich bewusst für ein Leben ohne Kinder entschieden hat?
Dass Sina Scheithauer keine Kinder will, ahnte sie schon, als sie Mitte 20 war. Zumindest sieht sie das in der Retrospektive so. Damals war das Thema Familienplanung in ihrem Umfeld gerade ein großes Thema, ihr selbst schien das noch zu früh. Heute, zehn Jahre später, weiß sie, dass sie damals schlicht versuchte, ihren nicht vorhandenen Kinderwunsch mit ihrem Alter zu begründen. "Dass es tatsächlich möglich sein könnte, ein Leben ganz ohne eigene Kinder zu führen, ist mir damals nicht in den Sinn gekommen. Ich bin immer davon ausgegangen, dass der Kinderwunsch noch kommen wird", sagt sie im Gespräch mit EMOTION. Warum das so war? "Ich war von den Narrativen rund um Kinderwunsch, Mutterinstinkt und die sogenannte biologische Uhr stark beeinflusst. Ein kinderloses Leben kannte ich nur im Zusammenhang mit Unfreiwilligkeit."
Die Entscheidung gegen Kinder – für manche ein Befreiungsschlag
Heute ist Sina Scheithauer 36, hat keine Kinder – und ist sehr glücklich damit. Die Entscheidung gegen Kinder fiel, als sie etwa 30 Jahre alt war, nach einem "langen Prozess der inneren Auseinandersetzung". Es war wie ein Befreiungsschlag nach jahrelanger Unsicherheit und gesellschaftlichem Druck, so erzählt sie es heute. Wie viele Frauen wie Scheithauer es in Deutschland gibt, ist schwierig festzustellen. Dazu, wie viele ungewollt Kinderlose es gibt, gibt es aktuelle offizielle Zahlen: jede:r Zehnte im Alter zwischen 20 und 50 Jahren ist betroffen. Dazu, wie viele Menschen hierzulande keine Kinder wollen, gibt es hingegen kaum Zahlen, zumindest keine aktuellen.
Dass bewusst kinderlos lebende Menschen öffentlich kaum sichtbar sind, ist Teil eines größeren Problems, findet Sina Scheithauer. "Mir haben damals auch die kinderfreien Vorbilder gefehlt", sagt sie im Gespräch mit EMOTION. "Hätte es die gegeben oder hätte ich jemanden gehabt, der mich durch diesen Prozess begleitet, hätte ich die Klarheit, dass ich keine Kinder möchte, sehr viel früher haben können. Und auch die Freiheit und innere Ruhe, die mit der Entscheidung einhergehen." Heute ist sie selbst diese Person für andere. Seit 2021 ist Scheithauer Coachin zum Thema gewollte Kinderlosigkeit und begleitet Frauen im Entscheidungsprozess, spricht in einem Podcast mit kinderfreien Frauen und solchen, die sich noch nicht entschieden haben. Um Stigmata und Vorurteile aufzubrechen, aber auch um sichtbar zu machen, dass es ein valides Lebenskonzept ist, keinen Nachwuchs zu wollen.
"Ich wurde in den unmöglichsten Situationen danach gefragt, ob ich Kinder will"
Denn immer noch gibt es eine gewisse kollektive Erwartungshaltung, Kinder zu haben, besonders Frauen gegenüber. Oder, wenn es mit der Familienplanung nicht klappt, sich zumindest welche zu wünschen. Diese Erfahrung hat auch Sina Scheithauer gemacht. Das Gefühl, sich vor anderen dafür rechtfertigen zu müssen, weil die ihre Entscheidung nicht nachvollziehen können, hatte sie häufig. "Ich wurde in den unmöglichsten Situationen danach gefragt, ob ich Kinder will. Und zwar von Menschen, die mir nicht so nahestanden, dass es überhaupt eine angemessene Frage gewesen wäre." Auf Verständnis stieß sie selten. "Ein 'Nein' auf die Kinderfrage wird oft nicht akzeptiert und immer wieder hinterfragt. Dadurch wird letztendlich ja auch die Urteilsfähigkeit der Frauen infrage gestellt", sagt sie EMOTION.
Sina Scheithauer hat eine Vermutung, woran es liegt, dass Frauen, die bewusst kinderlos bleiben, so viel Verwunderung und Skepsis entgegenschlägt. "Ich glaube, dass Kinder in unserer Gesellschaft noch immer so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner sind, denn die meisten Menschen entscheiden sich eben dafür, ob bewusst oder nicht. Wahrscheinlich kommt es daher, dass dieses doch sehr private und intime Thema einfach beim Smalltalk angesprochen wird." Die Journalistin Sonja Eismann sagt, die teils sehr heftigen Reaktionen unserer Gesellschaft auf kinderlose Frauen lägen daran, "dass der vielzitierte deutsche Mutterkult noch längst keine Sache der Vergangenheit ist." Dass die Mutterrolle nach wie vor als Kern der Weiblichkeit gilt, ist für Eismann einer der Gründe, warum bewusst kinderfrei lebende Männer keine derartig starken Reaktionen hervorrufen würden.
"Frauen, die sich bewusst gegen Kinder entscheiden, bereuen das in der Regel nicht"
Die Bedeutung von Kindern sinkt vor allem bei Frauen – sind die Rahmenbedingungen schuld?
Fest steht: Der Wunsch nach eigenen Kindern geht zurück. Und zwar über Bildungsstand, Erwerbstätigkeit und Einkommen hinweg – bei Frauen aber stärker als bei Männern. Das hat die aktuelle Vermächtnisstudie, eine repräsentative Erhebung der ZEIT, des infas-Instituts für angewandte Sozialwissenschaft und des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), herausgefunden. "Wir sehen zum ersten Mal, dass die Bedeutung von Kindern bei den Befragten sinkt. Insbesondere jüngere Frauen raten zukünftigen Generationen dazu, die Wichtigkeit eigener Kinder nicht zu hoch zu setzen", sagt die Soziologin und Präsidentin des WZB Jutta Allmendinger, die die wissenschaftliche Leitung der Vermächtnisstudie übernahm, zu den Ergebnissen.
Woran liegt das? Bisher sei es ein Konsens in der Wissenschaft gewesen, dass die Rahmenbedingungen der Grund seien, dass Frauen sich gegen Kinder entscheiden, sagt Prof. Dr. Claudia Rahnfeld EMOTION. Also etwa die schwierige Vereinbarkeit von Job und Kinderbetreuung oder mangelnde Kitaplätze. Diese Annahme kam aber nicht aus der Forschung, sondern aus der Politik, sagt sie. "Da dachte man, dass, wenn zum Beispiel die Vereinbarkeit von Beruf und Familie besser wird, sich auch mehr Frauen für Kinder entscheiden". So schreibt etwa das Demografieportal, das im Auftrag des Bundesministeriums des Innern und für Heimat vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung herausgegeben wird: "Träger der Kinderlosigkeit sind vor allem hochqualifizierte Frauen, die sich oft gegen Kinder und für Beruf und Karriere entschieden haben. Ein wesentlicher Grund waren und sind unzureichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten." Aber sind die Rahmenbedingungen wirklich der Knackpunkt?
Um diese These zu untersuchen, führte Rahnfeld an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Dualen Hochschule in Gera gemeinsam mit ihrer Kollegin Annkatrin Heuschkel eine Studie mit mehr als 1.100 gewollt kinderlosen Frauen durch. Wie repräsentativ die Studie, die EMOTION vorliegt, ist, sei schwer abzuleiten, sagt Rahnfeld auf Nachfrage. Denn: "Wir kennen die Grundgesamtheit nicht, Repräsentativität lässt sich aber nur mit dieser statistisch berechnen. In Deutschland werden jedoch leider keine Daten zu gewollter Kinderlosigkeit erhoben. Die Aussagekraft einer Stichprobe, in der über 1100 Frauen befragt wurden, ist jedoch unabhängig davon sehr hoch."
Drei wichtige Erkenntnisse, drei widerlegte Vorurteile
Drei große Vorurteile über bewusst kinderlose Frauen, die gesellschaftlich noch stark verbreitet sind, konnte Rahnfeld zusammen mit Heuschkel widerlegen, sagt sie EMOTION. "Einerseits das Partner-Thema: Dass Frauen nur auf den Richtigen warten, mit dem sie dann Kinder bekommen, stimmt nicht. Die Mehrheit der Studienteilnehmerinnen lebt in glücklichen Partnerschaften und viele haben sich auch wegen der Beziehung gegen Kinder entschieden, um deren Qualität nicht zu ändern." Die zweite wichtige Erkenntnis ist laut Rahnfeld der Zeitpunkt, an dem sich die meisten Studienteilnehmerinnen gegen Kinder entschieden haben. 42 Prozent der befragten Frauen hatten sich bereits vor ihrem 18. Lebensjahr gegen Kinder entschieden, bis zum 30. Lebensjahr waren sich 80 Prozent sicher. Das ist auch der Zeitpunkt, an dem Sina Scheithauer wusste, dass sie keine Kinder möchte. "Unsere Studie hat auch gezeigt, dass Frauen, die sich gegen Kinder entscheiden, das in der Regel nicht bereuen. Dieses Reue-Argument ist empirisch nicht nachweisbar", sagt Rahnfeld.
Das dritte Vorurteil, das die Studie von Heuschkel und Rahnfeld widerlegen konnte, ist der Grund, warum immer weniger Frauen Kinder wollen. Denn, so zeigen es die Ergebnisse, es liegt eben nicht an den Rahmenbedingungen – oder daran, dass Frauen sich zugunsten ihrer Karriere gegen Kinder entscheiden.
Die Entscheidung für ein Leben ohne Kinder wird demnach vorwiegend aufgrund der individuellen Überzeugungen einer Frau und ganz bewusst getroffen. Die meistgenannten Gründe sind der Wunsch nach mehr Freizeit (82 Prozent), größere Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung (80 Prozent) und die Freiheit von Verantwortung in der Kindererziehung (73 Prozent). "Wir konnten zeigen: Das 'Karrierebitch'-Narrativ, dem man noch sehr häufig begegnet, nach dem Frauen auf Kinder verzichten, um im Berufsleben schneller voranzukommen, stimmt ebenfalls nicht. Wir haben den Stellenwert der Lebensbereiche abgefragt und der Beruf wird als letztes in der Priorisierung aufgeführt. Es geht eben primär um das eigene Freizeiterleben, die Freiheit und die Selbstverwirklichung." Und, auch das hebt Rahnfeld im Gespräch mit EMOTION hervor – manche Frauen verspüren eben keinen Kinderwunsch, ohne dass es einen expliziten Grund dafür gäbe.
Mehr Forschung, mehr Akzeptanz
Dass es diesen Frauen schwer gemacht wird, beobachten sowohl Sina Scheithauer als auch Prof. Dr. Claudia Rahnfeld. "Der gesellschaftliche Druck, Kinder zu bekommen oder sich welche zu wünschen, ist bei Frauen weitaus größer als bei Männern", sagt Rahnfeld im Gespräch mit EMOTION. "Ich kann diese Erfahrung aus wissenschaftlicher Sicht bestätigen, aber eben auch als Frau, die das selbst erlebt." Sie wünscht sich mehr Forschung zu bewusster Kinderlosigkeit, damit das Thema öffentlich sichtbarer wird und besser zu ergründen ist. "Es gibt immer noch Wissenschaftler, die sagen, dass gewollte Kinderlosigkeit gar kein Aspekt ist, der statistisch überhaupt ins Gewicht fällt. Aus meiner Sicht ist das Schwachsinn. Wir sehen ja, dass der Trend sehr wohl in diese Richtung geht."
Sina Scheithauer ist es ebenfalls ein Anliegen, dass über die bewusste Entscheidung, keine Kinder zu bekommen, mehr gesprochen wird. "Ich halte es für wichtig, das kinderfreie Leben als alternativen Lebensstil zu einem Leben mit Kindern zu etablieren, ohne dabei eine Wertung vorzunehmen, welcher Weg der bessere ist, weil sie – aus meiner Sicht – schlichtweg gleichwertig sind", sagt sie EMOTION. Sie wünscht sich mehr gesellschaftliche Akzeptanz und Wohlwollen für die Entscheidung einzelner Frauen – wie auch immer sie ausfallen mag. Für sich selbst, aber auch für all die Frauen, denen es ähnlich geht wie ihr.
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