Fehlgeburten kommen häufig vor – und sind trotzdem ein Tabuthema. Wieso Prominente jetzt darüber sprechen und wie wir alle das Thema sichtbar machen, um betroffenen Eltern zu helfen...
Fehlgeburt: Model Chrissy Teigen bricht ein Tabu
Als Model Chrissy Teigen die berührenden Bilder ihres tot geborenen Sohns postete, teilte sie ihre Trauer mit über
33 Millionen Menschen. Auch andere verwaiste Eltern brechen jetzt das Schweigen – damit das endlich kein Tabu mehr ist. Sie wollte sich später erinnern können, deshalb bat sie ihren Mann, den Moment genauso festzuhalten wie ihren Hochzeitskuss und die Geburten ihrer ersten zwei Kinder. Ihr Mann, der Musiker John Legend, habe die Vorstellung gehasst, schrieb Model Chrissy Teigen später in einem berührenden Essay. Aber es musste sein. Also machten er und ihre Mutter Bilder aus dem Kreißsaal, die Chrissy kurz darauf über Instagram mit der Welt teilte; Bilder von der stillen Geburt ihres Sohnes Jack.
Jährlich werden 2.800 Sternenkinder geboren
Stille Geburten nennt man so, weil der Schrei ausbleibt, mit dem das neue Leben normalerweise beginnt. In Deutschland sterben vor, während oder kurz nach der Geburt jährlich etwa 2800 Kinder. Sie werden "Sternenkinder" genannt, nach der Vorstellung, dass ihr Licht ihre Eltern auf ewig begleitet.
Unsere Gesellschaft klammert Trauer aus
Die verwaisten Eltern müssen aber nicht nur mit dem schweren Verlust umgehen, sondern auch mit einer Gesellschaft, die Tod und Trauer gerne ausklammert. Wenn ein Kind stirbt, berührt das unsere tiefsten Urängste. Es geht damit auch immer ein Stück Zukunft verloren, der Kreislauf des Lebens wird durchbrochen. Deshalb verdrängen wir allzu gerne, worüber wir nicht sprechen können. Chrissy Teigen wollte dieser Sprachlosigkeit etwas entgegensetzen. "Diese Fotos sind für die Menschen, die dasselbe durchleben mussten oder offen genug sind, sich zu fragen, wie so etwas ist", schrieb sie. "Sie sind für alle, die sie brauchen."
Auch Meghan Markle spricht über ihre Fehlgeburt
Nur acht Wochen später veröffentlichte auch Meghan Markle in der "New York Times" einen Text über die Fehlgeburt ihres zweiten Kindes. In "The losses we share" erzählt sie, wie sie in der Klinik Harrys Hand hielt, die nass war vor Tränen, und sich fragte: "Wie werden wir heilen?" Ihre Antwort: Indem wir unsere Geschichte erzählen und anderen Mut machen, das Gleiche zu tun.
Das Gefühl, nicht allein zu sein
Chrissy Teigen und Meghan Markle haben ein Gefühl sichtbar gemacht, das immer mehr verwaiste Eltern teilen, die nicht prominent in der Öffentlichkeit stehen. Auch sie nutzen Instagram, Facebook und Twitter ganz bewusst, um über ihren Verlust zu sprechen. Sie erzählen Geschichten, die sonst hinter verschlossenen Kliniktüren bleiben. Und geben uns damit Gelegenheit, zu lernen, mit ihnen umzugehen und die eigene Angst zu überwinden.
"Dein Baby lebt nicht mehr"
Auch Angelika aus Heilbronn hat Fotos ihrer still geborenen Tochter Noelia auf Instagram geteilt. Bis heute hallt in ihr der Satz nach, den ihr Arzt sagte, nachdem er auf dem Ultraschall eine gefühlte Ewigkeit nach Noelias Herztönen gesucht hatte. Angelika wusste, dass etwas nicht stimmte. Im neunten Schwangerschaftsmonat hatte sie plötzlich Blutungen bekommen, ihr Bauch war steinhart geworden. Irgendwann drehte er den Monitor zu ihr und ihrer Hebamme: "Dein Baby lebt nicht mehr". Zu dritt hielten sie sich an den Händen und weinten.
Eine natürliche Geburt ist der Beginn der Trauer
Angelika ist selbst Hebamme, aus ihrer Berufspraxis weiß sie, dass man Frauen, deren Kind im Mutterleib verstorben ist, eine natürliche Geburt empfiehlt. "Sie ist der Beginn des Trauerprozesses, mit ihr fängt das Loslassen an." Für sie selbst war das nicht mehr möglich, ihre Plazenta hatte sich frühzeitig abgelöst, das ist lebensbedrohlich für Frauen. So blieb nur die Not-OP.
"Ich hatte das Gefühl, man müsse sie nur anpusten und sie würde beginnen zu atmen."
"Ich habe geweint, weil ich meine Tochter verliere und gleichzeitig so große Angst hatte, meinen Sohn und meinen Mann nicht mehr wiederzusehen", erzählt sie. Als Angelika aus der Narkose erwachte, wollte sie ihre Tochter einfach nur bei sich haben. "Ich wollte sie auf meiner Brust spüren", erinnert sich die 29-Jährige. So, als wäre Noelia lebend geboren worden. Als ihr Mann in der Klinik ankam, hielt sie Noelia schon im Arm. "Der Verlust ist zu groß, als dass man ihn begreifen kann", sagt sie. Für Angelika sah Noelia aus wie das perfekte Baby: rosig, viele rotbraune Haare, die kleinen Hände. "Ich hatte das Gefühl, man müsse sie nur anpusten und sie würde beginnen zu atmen."
Fotos sind die einzige Erinnerung
Schließlich bat auch sie ihren Mann, Fotos zu machen. Auch er zögerte. Doch Angelika wusste, dass solche Bilder oft alles sind, was verwaisten Eltern von ihrem Kind bleibt. "Die Erinnerung, wie sie wirklich aussah, verblasst sonst irgendwann." Heute sind die Fotos ihrer Tochter, neben ihrem Sohn Jonathan, der größte Schatz, den beide haben.
Einen Umgang mit dem Thema finden
Ihr war schnell klar, dass sie die Bilder auf Instagram teilen würde. Schon während der Schwangerschaft hatte sie viele Fotos von sich gepostet. Deshalb hätte sie nie einfach so weitermachen können: "Noelia gehört zu meinem Leben." Sie zu verschweigen, würde den Schmerz nur noch schwerer werden lassen. Zu oft hatte Angelika das bei ihrer Arbeit erlebt. "Auch als Hebamme ist es mir wichtig, dass wir einen neuen Umgang mit dem Thema finden", sagt sie.
Soziale Medien als Raum zur Trauer
"Die meisten Eltern leiden darunter, dass ihre Kinder nach einer Zeit ‚unsichtbar‘ werden", sagt auch Jan Salzmann von der Initiative Regenbogen Glücklose Schwangerschaft e. V. Meist passiert das aus Unsicherheit, weil Angehörige und Freund:innen nicht wissen, was sie sagen sollen, und das Thema oder sogar den Kontakt meiden. Auch deshalb machen immer mehr Eltern ihre Sternenkinder im Internet sichtbar, in einer Art digitalisierten Trauerverarbeitung. "Für Familien kann das sehr heilsam sein, weil es da einen Raum für sie gibt", sagt Salzmann.
Wahnsinnig viele Menschen teilen die Geschichten
Drei Wochen nach Noelias stiller Geburt postete Angelika ein Schwarz-Weiß-Bild von der kleinen Hand ihrer Tochter in ihrer eigenen. Auch vier Monate später bekommt sie noch jeden Tag Kommentare und Nachrichten dazu. Nie hätte sie erwartet, dass so viele Frauen ihre Geschichten mit ihr teilen. Gegenseitig geben sie sich Kraft. "Aber es macht mich auch traurig, wenn jemand schreibt: 'Es ist 15 Jahre her, es lässt mich nicht los, ich habe niemanden mit dem ich reden kann.'" Deshalb waren die Postings von Chrissy Teigen und Meghan Markle so starke Signale. „Sie haben solchen Frauen Gehör verschafft“, sagt Angelika. Auch Teigen schreibt, wie sehr sie die vielen Nachrichten überwältigt hätten. Besonders kostbar seien aber die Momente, wo die Online-Anteilnahme ins echte Leben übergehe. Etwa, als ihr eine Kassiererin Blumen zu ihrem Einkauf dazulegte.
Sternenkinder sichtbar halten
Um solche Momente auch als Nichtprominente zu erleben, ist es für Angelika essenziell, seine Trauer auch offline zu äußern. Allerdings kostet es oft Überwindung, seinem Gegenüber so ein Gespräch zuzumuten. "Aber ich er lebe immer wieder, dass der andere sich dann auch öffnet", sagt sie. Im Gegenzug reicht es oft schon, ein verwaistes Elternteil zu fragen: "Bist du okay?" Die größte Geste ist für Angelika und ihren Mann jedoch, wenn sich andere von sich aus nach Noelia erkundigen. Weil sie sich dann nicht nur in ihrer Trauer gesehen fühlen, sondern auch ihre Tochter sichtbar bleibt. Denn mit dem Schmerz werden sie irgendwann zu leben lernen, aber die Eltern ihres toten Kindes bleiben sie für immer.
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