Unsere Freundschaften und Kontakte haben sich im letzten Jahr verändert. Das kann ein Verlust sein – oder eine Chance.
Freundschaft und Corona: Wir sehen uns im Videocall
Das letzte Jahr hat uns auf vielen Ebenen herausgefordert. Viele belastet die Isolation und die daraus entstehende Einsamkeit am stärksten. Klar ist es toll, mit den Freund:innen im Videocall auf den Geburtstag anzustoßen, online gemeinsam zu spielen oder zu telefonieren. Aber die leicht zeitversetzten kleinen Bilder auf dem Screen und der stockende Ton können kein dauerhafter Ersatz für echte Begegnungen sein.
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Plötzlich trifft man nur noch sich selbst
Während viele Menschen vor Corona ihre Arbeitstage gemeinsam mit Kolleg:innen verbracht haben und in ihrer Freizeit Sportkurse, Museen oder Bars besuchten, ist man plötzlich wahnsinnig viel allein. Homeoffice, Home Workout, digitale Veranstaltungen – alles tolle Angebote, aber da sind meistens nur wir selbst und der Bildschirm, die wir wirklich anfassen könnten. Die SZ-Gesellschaftsredakteurin Barbara Vorsamer beschreibt im Podcast "Das Thema", dass der Austausch "sozialer Energien" fehle, der sonst den ganzen Tag stattfindet. Ob diese Energien tatsächlich existieren, weiß sie nicht, und doch beschreibt es ziemlich gut, was vielen von uns gerade fehlt.
Lose Kontakte gehen verloren
Die Person, die immer gleichzeitig mit dir im Fitnessstudio trainiert, die Cafébesitzerin, die deine übliche Bestellung schon kennt, oder der Sitznachbar im Hörsaal – all diese Kontakte sind im letzten Jahr weggefallen. Amanda Mull nennt diese Kontakte im The Atlantic "weak ties". Der Stanford-Soziologe Mark Granovetter prägte den Begriff und ordnet dieser soziologischen Gruppe einerseits Menschen zu, die man nur selten sieht, aber auch nahezu Fremde, mit denen man eine gewisse Vertrautheit teilt. Diese Kontakte sind die, die mit der Schließung von Fitnessstudios, Cafés und Bildungseinrichtungen als erstes verschwanden. Granovetter hält diesen "erweiterten Kreis" in seiner Gesamtsumme jedoch für sehr wichtig für unser soziales Wohlbefinden.
Wir halten uns an die Menschen in unserer Nähe
For many of us the pandemic was a great social winnowing, a paring down of our widest circles of friends to a skeleton crew of essentials – those who happened to be proximate, available, in our circle of trust.
Alex Williams, New York TimesTweet
Alex Williams schreibt in der New York Times:
"Für viele von uns war die Pandemie ein großes soziales Aussieben, ein Verkleinern unserer erweiterten Freundeskreise auf eine Notbesatzung – diejenigen, die gerade in unserer Nähe waren, die verfügbar waren und zu denen wir Vertrauen hatten."
Nicht selten wurden Mitbewohner:innen zu engsten Verbündeten und Nachbar:innen zu Freund:innen, die man ohne die Pandemie vielleicht nie auf diese Weise kennengelernt hätte.
Alles (nur) auf Pause?
Manchmal fühlt es sich so an, als würden wir nur auf den Startschuss warten, der uns zurück ins Leben vor Corona bringt. Doch das wird es nicht mehr geben. Menschen haben sich verändert, sind umgezogen, vertreten vielleicht plötzlich gesellschaftspolitische Ansichten, die wir nicht teilen. Im SZ-Podcast "Das Thema" wird in der Folge "Wie die Pandemie unsere Freundschaften verändert" die Geschichte zweier Freundinnen erzählt, denen Corona eine politische Debatte aufzwang. Und deren Freundschaft daran zerbrach, dass die eine sich isolierte und sorgte, während die andere Verschwörungstheorien verbreitete.
Freundschaften verändern sich in der Pandemie
Dass sich Freundschaften im Laufe der Corona-Pandemie verändern, zeigt auch eine Studie der Social Media-Plattform Snapchat aus dem letzten Jahr. Hier gaben etwa ein Viertel (23%) der befragten Personen in Deutschland an, dass sich die COVID-19-Pandemie auf ihre Freundschaften ausgewirkt hat. Dabei fühlten sich 58 Prozent ihren Freund:innen nicht mehr so nahe. Mehr als vier von zehn Befragten (42%) stimmten der Aussage zu, dass sie sich "von Freunden distanzierter fühlten, weil sie keine Zeit von Angesicht zu Angesicht miteinander verbringen konnten". Gleichzeitig gaben aber auch etwa die Hälfte der Befragten an, die Gespräche mit Freund:innen seien tiefergehend geworden und würden sich weniger auf oberflächliche Themen beschränken.
Es muss nicht alles werden wie vorher
Wir dürfen uns also fragen, wen wir wirklich vermissen und unbedingt wieder treffen möchten. Und wir dürfen genauso entscheiden, wer uns vielleicht weniger fehlt oder sich gerade als Energieräuber:in entpuppt. Vielleicht haben wir durch die Pandemie neue Menschen kennengelernt oder alte Bekanntschaften wieder aufleben lassen. Einige haben Videotelefonate für sich entdeckt, weil man endlich auch mit Freund:innen, die nicht in der gleichen Stadt wohnen, den Kontakt halten kann (das ging natürlich auch schon vor der Pandemie, aber irgendwie ist man doch selten dazu gekommen). Und bei einigen haben sich Freundschaften trotz physischer Distanz vertieft.
Freundschaften brauchen Nähe
Doch egal, ob beste Freund:innen oder gelegentlicher Kontakt – Freundschaften und zwischenmenschliche Beziehungen leben in den allermeisten Fällen auch von Nähe. Kleine Gesten oder Blicke können uns Auskunft darüber geben, wie die oder der andere sich fühlt. Während wir aktuell vielleicht manchmal auf die blauen Häkchen im Chatverlauf starren und und missverstehen. Gemeinsame Erlebnisse, sich auch mal in den Arm nehmen, Gruppendynamiken spüren – das sind Dinge, die wir gerade vermissen, die aber wiederkommen werden. Und die es uns wieder leichter machen, uns mit unseren alten und neuen Freund:innen zu verbinden.
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