Wenn die Freundin an Verschwörungstheorien glaubt. Erst war sie ganz nah, dann auf einmal fern, schließlich unerreichbar. Unsere Autorin erzählt, wie es ist, eine Freundin in Coronazeiten an Verschwörungsmythen zu verlieren.
Plötzlich kennt man sich nicht mehr
Jenna (Name von der Redaktion geändert) steht vor meiner Tür und schlägt dagegen. Durch den Türspion beobachte ich, wie sie im Treppenhaus steht. „Mach auf!“, brüllt sie, voller Wut. Ich fühle meinen Pulsschlag. Kurz überlege ich zu öffnen. Um zu sehen, ob es die Jenna, die mir vertraut ist, noch gibt. Jenna, auf deren Hochzeit ich die Fotos gemacht habe. Jenna, mit der ich bis zur Erschöpfung lachen konnte. Ich atme tief durch. Und öffne nicht.
My sister from another Mister
Unsere Töchter, damals zwei Jahre alt, hatten uns zusammengebracht. Die beiden gingen in dieselbe Kita. Wir hingen zusammen auf Spielplätzen ab, kochten gemeinsam und verquatschten uns auf meinem Balkon, während die Mädchen die Wohnung verwüsteten. Hatte Jenna sich mal wieder mit ihrem Mann verkracht, bezog ich sofort mein Sofa. Hatte ich kurzfristig ein Interview, verlegte sie ihre Termine, um auf meine Tochter aufzupassen. Wir wurden schnell sehr eng. „My sister from another Mister“, nannte sie mich.
Es gab nie einen Grund zu zweifeln
Jenna hat eine große Klappe und ein großes Herz. Sie liebt Kinder, und wenn es ein Problem zu lösen gilt, setzt sie alle Hebel in Bewegung. Sie ist eine Macherin. Und ganz anders als ich. Unsere Leben waren so verschieden wie unsere Meinungen. Der Psychotherapeut Wolfgang Krüger, der viel zu Freundschaften geforscht hat, sagt: „In Freundschaften muss die Basis stimmen, das gemeinsame Wertesystem.“ Bei Jenna und mir hatte ich nie einen Grund, daran zu zweifeln.
Dann kam Corona...
Erst lästerte sie nur über die „Maulwindel“. Ich sah es anders, aber wir lachten noch darüber. Ein paar Wochen später erzählte sie mir von Adrenochrom und davon, dass eine mächtige Elite weltweit Kinder folterte, um an diesen Stoff zu gelangen. Mir verging das Lachen. Anfangs konnte ich es kaum glauben, dass sie dieser absurden QAnon-Verschwörungstheorie verfiel. Doch spätestens als sie mir unter Tränen vom Leid der gefolterten Kinder erzählte, bekam ich eine Ahnung davon, wie unerträglich es für sie sein musste, dies für real zu halten. Ich versuchte dagegenzuhalten: mit Logik, Fakten, einfachen Fragen. Vergeblich, meint Wolfgang Krüger: „Argumente bringen nichts, denn die meisten Überzeugungen, die wir haben, sind eigentlich Weltanschauungen und – wie Religion – der Vernunft nicht zugänglich.“
Man weiß nicht mehr, was wahr ist
Jenna meinte, immer neue Dinge herauszufinden und konnte sehr überzeugend sein. Selbst als sie ihren Job verlor, weil sie ihrem Arbeitgeber kriminelle Machenschaften unterstellte und ihn anzeigte, konnte sie mich zum Zweifeln bringen. Was stimmte, was nicht? Doch fragte ich nach und wollte Beweise, schwieg sie nur und lächelte. Mit der Zeit fiel es mir immer schwerer, die Widersprüche auszuhalten: zwischen dem, was sie sagte, und meinen Überzeugungen. Hatte ich am Anfang noch jeden Artikel, den sie mir schickte mit einem Faktencheck beantwortet, kommentierte ich bald kaum noch etwas. Ich begann es zu ignorieren.
Die Toleranzgrenze in Freundschaften ist hoch
In Freundschaften toleriere man mehr als in Partnerschaften, sagt Wolfgang Krüger. „Wenn die eine Vegetarierin ist und die andere isst Fleisch, ist das kein Problem, das die Beziehung auseinanderbringt.“ Schwierig werde es nur, wenn man versuche, den anderen zu überzeugen und zu belehren – oder wenn es die eigenen Kernwerte des Lebens betreffe.
In sogenannten Alltagsfreundschaften bewältige man diesen Konflikt meist dadurch, dass man denjenigen im Freundschaftsranking herunterstufe: „Wenn wir erschrocken sind über die Meinung des anderen, passiert es automatisch, dass wir denjenigen nicht mehr so interessant und sympathisch finden und Abstand nehmen – und ein anderer rückt dann mehr nach oben“, sagt Krüger. Anders sei das bei Herzensfreundschaften: Die entwickelten sich nur langsam, und man prüfe sich gegenseitig über einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren, ob die grundsätzliche Sichtweise des Lebens übereinstimme. „Man kann es regelrecht ausschließen, dass in einer Herzensfreundschaft der eine links ist und der andere AfD wählt“, sagt Krüger.
Wir versuchten uns gegenseitig zu retten
Die Freundschaft zwischen Jenna und mir kam ohne diesen Auswahlprozess zustande. Über Kinder werde eine Beziehung schneller selbstverständlich, erklärt Krüger. Plötzlich ist man drin. Das waren wir – und versuchten uns gegenseitig zu retten. Sie flehte mich an, nicht mehr für die Mainstream-Medien zu schreiben. Ich flehte sie an, nicht auf Nazis hereinzufallen. QAnon war für mich eine Sekte, an die ich meine Freundin verlor.
Wenn das Vertrauen verschwindet
Dass auch sie mir nicht mehr vertraute, begriff ich an einem Spätsommertag. Zu der Zeit sahen wir uns nicht mehr oft, von ihrem Mann wusste ich, dass sie nächtelang vor dem Computer hockte. Sie müsse mich etwas fragen, sagte sie, aber ich verstand die Frage nicht. „Hast du?“, fragte sie nur.
Ein paar Tage zuvor hatten die Kinder bei mir gespielt, meine Tochter hatte sich dabei in die Hosen gemacht. Nicht weiter bemerkenswert bei einer Dreijährigen, aber für Jenna: ein Indiz. „Fragst du mich, ob ich meine Tochter sexuell missbrauche?“, fragte ich fassungslos. „Eine einfache Frage, du kannst mit Ja oder Nein antworten“, sagte sie knapp.
Sie loszulassen, tut weh. Aber es ist auch befreiend
Erst als ich wieder zu Hause war, überkam mich die Wut. Wie konnte sie? Zugleich war mir klar: Es ging hier um mehr, sie brauchte professionelle Hilfe. Einmal noch sprachen wir miteinander, ich sagte ihr, dass ich mir Sorgen machte. Wir hörten einander zu. Sie erzählte vom Schmerz ihrer Kindheit. Wir sprachen lang, umarmten uns am Ende. Das gab mir Hoffnung. Doch es wurde nicht besser, sondern schlimmer: Sie meldete ihre Tochter von der Kita ab, weil sie vermutete, dass sich die Erzieher an den Kindern vergingen. Sie bedrohte Bekannte und verdächtigte mich, mit ihrem Mann zu schlafen, weshalb sie vor meiner Tür stand. Ich hoffte immer noch, sie würde endlich Hilfe bekommen. Als könnte dann alles wieder normal werden.
Doch das wird es nicht, nie mehr. Ich habe lange gebraucht, um das zu begreifen. Jenna kam schließlich für kurze Zeit in die Psychiatrie. Ich fühlte mich erleichtert und spürte zugleich tiefe Trauer. Ich scrollte mich durch unsere Chats und Schnappschüsse, beklommen wie bei einem Todesfall, wehmütig wie bei Liebeskummer. Wiedergesehen haben wir uns nicht mehr. Sie loszulassen tut weh. Aber es ist auch befreiend.
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