Wann sind wir eigentlich alle so vernünftig geworden? Und warum? Denn wer sich dann und wann dem gepflegten Exzess hingibt und bewusst genießt, lebt besser – und gesünder.
Um es gleich vorwegzunehmen: Ich habe schon immer gern und viel gefeiert. Das liegt bei uns in der Familie. Meine Eltern, beide in ihren Sechzigern, sind grandiose Gastgeber, die vergnüglich kleine und große Anlässe nutzen, um liebe Menschen zusammenzutrommeln und es gemeinsam krachen zu lassen. Papa sagt immer: "So jung kommen wir nicht mehr zusammen." Das Totschlagargument für alle Partymuffel. Ich habe diese Leidenschaft meiner Eltern geerbt. Einen Anlass finde ich immer, um mich mit Freundinnen und Freunden (nach getaner Pflicht) in glitzernde Parallelwelten zu stürzen. Befördert? Gefeuert? Verlobt? Endlich 40? Egal! Hauptsache, man teilt seine Emotionen und genießt den Augenblick. Klar kann das auch mal à la "Hangover" ausarten. Dafür erinnert man sich wahrscheinlich zeitlebens an diese gewissen "Da ist ein Tiger im Badezimmer!"- Momente.
Hier wird nicht mehr über die Stränge geschlagen
Dennoch ist es in unserer nüchternen, gesundheitsfixierten Gesellschaft fast schon selten geworden, dass man mal über die Stränge schlägt. Die Leute veranstalten "Sober Partys" (ohne Alkohol), praktizieren Dinner Cancelling (ohne Abendessen) oder Clean Eating (ohne Sünde). Es gehört Mut dazu, heute noch offen zuzugeben, wenn man mal Bock auf einen Big Mac hat. Oder auf ein Steak. Oder darauf, sich mal gepflegt zulaufen zu lassen. Stattdessen postet man brav Schnappschüsse von grünen Smoothies und Yoga-Posen.
Jeder geht jetzt joggen, redet über seinen Bauch /
Bevor die "Lila Wolken" kommen sind alle längst zuhaus'
Es gibt Zeiten für alles: Party, Ruhe, feiern, Sex, fasten
Der Philosoph Robert Pfaller glaubt, dass Lustvermeidung und Askese Ausdruck unserer neoliberalen Kultur seien. Und Menschen häufig dazu neigten, es zu übertreiben, ganz nach dem Motto: Wenn ich auf tierische Produkte verzichte, kann ich auch gleich Zucker, Koffein, Kohlenhydrate und Gluten weglassen. Die Folge: Wir verlieren den mittleren Weg aus den Augen und dadurch unsere Balance. "Es gibt Zeiten für alles – exzessive Partys, Ruhe, feiern, faulenzen, Liebe, Sex, gutes Essen, fasten, viel arbeiten, Pause machen", sagt die Psychologin Sandra Jankowski. "In einer Gesellschaft, die mehr denn je von einem Perfektions- und Selbstoptimierungswahn geprägt ist, was durch die Sozialen Medien noch verstärkt wird, ist es sogar gesund, ab und zu mal alle Konventionen über den Haufen zu werfen und ordentlich auf den Putz zu hauen" Nicht umsonst galt schon in alttestamentarischer Zeit ein maßvoller Rausch als Quell der Fröhlichkeit (Gen 43,34).
Regelmäßige Exzesse wurden im Europa der Antike und im Mittelalter als völlig normal angesehen. Bier wurde bereits in der Steinzeit gebraut. Es scheint sich also um ein urmenschliches Bedürfnis zu handeln. Trotzdem mutieren viele mit zunehmendem Alter zu Stubenhockern (Ausnahme: meine Eltern), die um keine Ausrede verlegen sind, um sich vor "Partyalarm" zu drücken. Laut einer britischen Studie ist unser 37. Lebensjahr tatsächlich so etwas wie der eiserne Vorhang zum Nachtleben. Man fürchtet mehr denn je den Kater (29 %), empfindet das Wetter als zu unberechenbar (14 %), das Aufstylen als zu anstrengend (22 %) oder kriegt schlichtweg keinen Babysitter (12 %). Die hedonistische Sentenz "Carpe Diem!" hängt dann maximal noch als Wandtattoo im Wohnzimmer. Und stattdessen ist Binge-Watching auf der Couch angesagt.
Wir sollten nicht alles vermeiden, was anstrengen oder ungesund ist
Diese "Ich schone mich lieber"-Rechnung geht aber nicht auf. Aus der Stressforschung ist bekannt, dass wir uns nicht die ganze Zeit vor Stress schützen, sondern auch lernen sollten, mit anspruchsvollen, aufregenden Situationen umzugehen. "Es kommt nicht darauf an, alles zu vermeiden, was anstrengend, ungesund oder verrückt ist, sondern darauf, ein gutes Gleichgewicht zu erreichen“, sagt Jankowski. Umso tragischer, dass Studien mittlerweile belegt haben, dass die Deutschen verlernt haben zu genießen und auch immer weniger Sex haben. Schuld ist – mal wieder – das Smartphone, auf dessen Display wir nonstop schauen statt dem oder der Liebsten in die Augen. Gleichzeitig leiden viele unter Freizeitstress. Sie springen von einer Aktivität in die nächste, um bloß nichts zu verpassen. Dadurch sind sie allerdings immer weniger in der Lage, ihre Aktivitäten auch zu genießen. Es geht nur noch darum, das Erlebte ansprechend in den Sozialen Medien zu inszenieren.
"Es ist definitiv schlauer, sich ab und zu bewusst für Ungesundes zu entscheiden, weil es uns dann in der restlichen Zeit viel leichter fällt, gesund zu leben"
Coach Verena Krone, die Familien dabei hilft, ein gesünderes Leben zu führen, kennt das Problem. Ihre Klientinnen sind zum Großteil Mütter, die unter dem Druck stehen, Kind und Karriere zu vereinbaren. "Viele Frauen denken heute, sie müssten jeden Moment sinnvoll und produktiv nutzen, das Beste aus sich herausholen und auch gleich noch auf Instagram präsentieren. Stillstand wird nicht geduldet. Dabei geht der Spaß und der Genuss verloren, weil wir uns nur noch auf Kontrolle und Optimierung unseres Selbst und unseres Lebens fokussieren."
Wofür gelegentliche Exzesse gut sind
Das führe dazu, dass wir irgendwann unter Dauerstress stünden und dementsprechend auch immer mehr Erholungsphasen bräuchten, um den Stress abzubauen. Deshalb rät Verena Krone, sich regelmäßig etwas zu gönnen. "Gelegentliche Ekstase trainiert unsere Flexibilität", erklärt Krone. "Wenn wir gewohnte Bahnen durchbrechen, Mut aufbringen müssen und Nervenkitzel aufkommt, schüttet unser Körper Glückshormone aus. Mag sein, dass wir am Morgen danach unter einem Kater leiden, aber dafür gehen wir seelisch gestärkt daraus hervor! Unser Gehirn prägt sich ein, dass wir auch ungewöhnliche, verrückte Situationen gut ausbügeln und uns die Bewertungen von anderen relativ egal sein können."
Im Klartext: Wer sich regelmäßig ohne schlechtes Gewissen in einer rauschenden, fröhlichen Nacht verlieren kann, ohne die ganze Zeit mit schlechtem Gewissen an die morgige Konferenz oder den Kuchenbasar denken zu müssen, steigert sein Wohlbefinden und baut Stresshormone ab. "Es ist definitiv schlauer, sich ab und zu bewusst für Ungesundes zu entscheiden, weil es uns dann in der restlichen Zeit viel leichter fällt, gesund zu leben", sagt Dr. Christina Petersen, Fachärztin für Allgemeinmedizin und TCM-Ärztin. Man kennt das ja, beispielsweise von Silvester. Gerade da tue es gut, nicht nur bewusst innezuhalten und aufs Jahr zurückzublicken, sondern auch das zu zelebrieren, was vor uns liegt – mit Raclette, Feuerzangenbowle, Sekt um Mitternacht und einem süßen Berliner hinterher. "Einfach das Hier und Jetzt zu genießen, tut unserer Seele gut."
Wir sollten häufiger auf unsere Intuition vertrauen, die wir im Alltag ja gern mal ignorieren, weil sie uns von (zu) ehrgeizigen Plänen abhält. Was mich angeht: Ich bin heute sogar beruflich im Nachtleben tätig, als DJane. Und es fasziniert mich, Menschen dabei zu beobachten, wie sie peu à peu ihre Panzer abstreifen, sich genüsslich fallen lassen und, wenn alles perfekt läuft, zu dauergrinsenden Partybiestern mutieren. Yippie, yippie, yeah!
Dieser Text erschien zuerst in EMOTION 01/20.
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