Polens verschärftes Abtreibungsrecht tritt in Kraft. Die konservative Regierung macht es Frauen damit beinahe unmöglich, Schwangerschaften legal abzubrechen. Tausende protestieren.
Verschärftes Abtreibungsgesetz tritt in Kraft
Drei Monate, nachdem das polnische Verfassungsgericht ein Urteil zur Verschärfung des Abtreibungsrechts gefällt hat, wurde dieses nun mit der Publikation im Gesetzesblatt wirksam. Bereits seit 1933 gilt in Polen eines des restriktivsten Abtreibungsgesetze Europas. Frauen durften eine Schwangerschaft bisher nur abbrechen, wenn durch diese die eigene Gesundheit bedroht ist, sie vergewaltigt wurden oder eine schwere Fehlbildung des Fötus diagnostiziert wurde. Der letzte Punkt wurde nun als verfassungswidrig erklärt.
Reinhören: "Die Polinnen haben die Schnauze voll" – Podcast-Sonderfolge zum Abtreibungsrecht mit Bascha Mika
Neues Gesetz kommt Abtreibungsverbot gleich
Krystyna Kacpura, Leiterin des Verbands für Frauen und Familienplanung, erklärt: "98 Prozent der legalen Abtreibungen in Polen betreffen Missbildungen des Fötus. Die Entscheidung bedeutet ein totales Abtreibungsverbot in Polen." Im neues Gesetzestext heißt es: Das Recht auf Leben beginne mit der Empfängnis, es gehe um ein Fundament der Zivilisation. Erste Kommentatoren lesen aus den Formulierungen heraus, dass auch ein baldiges Abtreibungsverbot nach Vergewaltigungen möglich sein könnte.
Polens Abtreibungsrecht "bedeutet Krieg"
Bereits die Verkündung des Urteils im Oktober trieb tausende Polinnen und Polen auf die Straße. Auch Protestierende in anderen Ländern zeigten sich solidarisch. Mit Inkrafttreten des Gesetzes erreichen die Proteste nun einen neuen Höhepunkt. In Polens Hauptstadt Warschau protestierten Menschen mit brennenden Fackeln und Regenbogenflaggen. Sie hielten Plakate mit Aufschriften wie "Das bedeutet Krieg", "Ich denke, ich fühle, ich entscheide" und "Hölle der Frauen" in die Höhe. Auch in anderen polnischen Städten wie Łódź und Szczecin (Stettin) wurde, trotz geltender Corona-Beschränkungen, demonstriert.
„Seid gewiss: In jedem Dorf, in jeder Stadt in Europa folgen Frauen gerade eurem Kampf. “
Terry Reintke, deutsche EU-Abgeordnete (Die Grünen) an die Frauen in PolenTweet
Gesetz verletzt Menschenrechte
Sowohl in Polen als auch auf europäischer Ebene wurde das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts scharf kritisiert, vom Europaparlament sogar "auf das Schärfste" verurteilt. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, schrieb auf Twitter, das Urteil komme einem Verbot gleich und verletzte die Menschenrechte. Es bedeute, dass mehr Abtreibungen im Untergrund oder Ausland stattfinden werden – für diejenigen, die es sich leisten können. Und noch schwerere Strapazen für alle anderen.
"Removing the basis for almost all legal abortions in Poland amounts to a ban and violates human rights. Today's ruling of the Constitutional Court means underground/abroad abortions for those who can afford and even greater ordeal for all others. https://t.co/fTp7VMyXhU
— Dunja Mijatovic (@Dunja_Mijatovic) October 22, 2020
200.000 Abtreibungen illegal oder im Ausland
In Polen gab es 2019 lediglich 1.110 legale Schwangerschaftsabbrüche, 1.074 davon wurden mit Fehlbildung oder Krankheit des ungeborenen Kindes begründet und wären damit ab sofort verfassungswidrig. Nach Schätzungen von Frauenrechtsorganisationen wurden bisher bereits etwa 200.000 Abtreibungen pro Jahr illegal oder im Ausland vorgenommen.
Urteil im zweiten Anlauf gesprochen
2015 ließ die nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) wegen starker Proteste, vor allem von Frauen, das Vorhaben zur Verschärfung des Abtreibungsgesetzes schon einmal fallen. 2019 wandten sich jedoch 107 PiS-Abgeordnete und ein Dutzend weiterer Parlamentarier, fast ausschließlich Männer, an das Verfassungsgericht und bewirkten das umstrittene Urteil.
Polnische Politik ist männergemacht
In Polen wird die Politik beinahe ausschließlich von Männern gemacht. Das gilt besondern für die PiS. Bei der Präsidentschaftswahl im Sommer letzten Jahres standen elf Kandidaten zur Wahl – keine Kandidatin. Einige politische Posten werden zwar an Frauen vergeben, starken Einfluss nehmen diese jedoch selten. Ausgerechnet das Urteil zum Abtreibungsgesetz wurde nun von einer Frau gesprochen: Julia Przyłębska, Präsidentin des Verfassungsgerichts in Warschau. Diese gilt jedoch selbst in den eigenen Reihen als stark vom politischen Willen der PiS und dessen Vorsitzenden Jarosław Kaczyński beeinflusst. Das Urteil zum Abtreibungsgesetz wird als seines verstanden. Die Entscheidung zur Verschärfung des Gesetzes lag somit beinahe ausschließlich in Männerhand – und das, obwohl es um ein Thema geht, das weiblicher kaum sein könnte.
Protestierende als Straftäter*innen bezeichnet
Die Wut der Protestierenden richtet sich gegen die Regierung, das Gericht, das in ihren Augen nicht mehr unabhängig agiert, und vor allem Kaczyński. Eben dieser verurteilte die Proteste im Land bereits vergangenes Jahr und wies darauf hin, dass Versammlungen aufgrund der verschärften Corona-Maßnahmen verboten seien. Jede*r, die oder der an den Protesten teilnehme, würde Menschenleben gefährden und damit ein "ernsthaftes Verbrechen" begehen, so Kaczyński.
Die Vermutung, die Regierung habe die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes in Zeiten der Corona-Pandemie durchdrücken wollen um Proteste zu unterbinden, liegt hier nicht fern. Gleichzeitig forderte Kaczyński seine Anhänger nach Verkündung des Urteils vor drei Monaten dazu auf, sich schützend vor Kirchen im Land zu stellen. Denn auch die katholische Kirche ist Ziel der Proteste, nachdem sie seit Jahren gemeinsam mit PiS-Abgeordneten Lobbyarbeit für ein Abtreibungsverbot betrieb.
Frauenrechte schon zuvor kein Thema – im Gegenteil...
Nachdem die polnische Regierung im Sommer 2020 bereits den Austritt aus der Istanbul-Konvention (Abkommen des Europarats zum Schutz von Frauen) diskutierte, ist das verschärfte Abtreibungsgesetz ein weiterer Tiefschlag im Kampf um mehr Gleichberechtigung. Auch für das wichtige Amt des Bildungs- und Wissenschaftsministers wurde erst kürzlich der extrem konservative und homophobe Przemysław Czarnek vereidigt. Der 42-Jährige vertritt die Ansicht, Frauen wären von Gott dazu berufen, Kinder zu bekommen, statt Karriere zu machen. Polinnen, die gegen das Abtreibungsverbot protestieren, tat er als "linksradikale Revolutionärinnen" ab, für die es in Polen "keinen Platz geben kann". Darüber hinaus spricht sich der Minister deutlich gegen die Gleichberechtigung Homosexueller sowie die Aufnahme muslimischer Geflüchteter aus.
Junge Frauen distanzieren sich von PiS
Trotz allem hat die PiS auch viele Wählerinnen. Bei der letzten Parlamentswahl kamen 43,1 Prozent der Stimmen für die konservative Partei von Frauen – größtenteils jedoch aus der älteren Generation. Mehr als zwei Drittel der Wählerinnen zwischen 18 und 39 Jahren haben laut Umfragen gegen den amtierenden Präsidenten Andrzej Duda (Kandidat der PiS) gestimmt.
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