Am 24. Juni wurde der § 219a StGB gestrichen, Ärzt:innen dürfen also endlich über Abtreibungen informieren. Die miese Versorgungslage ändert das kaum. Weil immer weniger Praxen Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, ist Tele-Medizin für viele Frauen die letzte Rettung. Ärztin Alicia Baier erklärt, wie die Abtreibung per Videochat abläuft – und was sich jetzt wirklich ändern muss.
EMOTION: Frau Baier, Abtreiben per Videochat - das klingt nach Science-Fiction und auch etwas beängstigend. Was steckt hinter diesem Projekt?
Alicia Baier: In Berlin gibt es vom Familienplanungszentrum Balance ein Telemedizin-Projekt, das wir unterstützen. Darüber ist ein medikamentöser Schwangerschaftsabbruch mit Video-Begleitung möglich. So können zum Beispiel Frauen in
Regionen, wo die Versorgung schlecht ist, Hilfe bekommen. Wir können ihnen die Medikamente zuschicken.
Wie genau funktioniert das?
Die Patientin meldet sich zuerst für ein Gespräch mit einer Krankenschwester des Familienplanungszentrums an. Mit der bespricht sie, ob der medikamentöse Abbruch zu Hause überhaupt die richtige Methode ist. Darauf folgt ein ärztliches Anamnesegespräch, und danach muss sie uns verschiedene Unterlagen zusenden. Wenn alles vorliegt und die Patientin sich sicher ist, bekommt sie die Medikamente geschickt. Das zweite ärztliche Video-Gespräch findet statt, wenn sie die erste Tablette einnimmt, weil das unter ärztlicher Aufsicht passieren muss – auch wenn da erst mal medizinisch gar nichts passiert.
Und dann?
Nimmt sie die zweite Tablette zwei Tage später, ebenfalls zu Hause. Die löst die Blutung aus, und da ist sie in Begleitung einer vertrauten Person, etwa ihres Partners oder ihrer besten Freundin. Zwei Wochen darauf macht sie einen speziellen Schwangerschaftstest, das Ergebnis wird online ausgewertet.
Zoomen Sie mit Ihren Patientinnen oder welches Programm nutzen Sie? Und suchen viele Frauen Ihre Hilfe?
Wir benutzen für die Kommunikation „medflex“, ein datensicheres Programm. Wir bekommen mehr Anfragen, als das Familienplanungszentrum zurzeit bewältigen kann. Die bisherigen Patientinnen waren sehr zufrieden. Viele Betroffene werden von den Strukturen vor Ort nicht aufgefangen und suchen sichere Alternativen. Das trifft leider auch Frauen, die eigentlich gern in ihre vertraute gynäkologische Praxis gegangen wären, die aber keine Abbrüche macht. Für sie ist der Abbruch zu Hause eine Notlösung. Dabei sollte es eine freie Wahlmöglichkeit geben, ob man einen Abbruch in einer Praxis oder zu Hause durchführen möchte.
Der Schwangerschaftsabbruch ist einer der häufigsten gynäkologischen Eingriffe in Deutschland, dennoch hat sich die Zahl der Ärzt:innen, die eine Abtreibung vornehmen, in den letzten 20 Jahren fast halbiert. Warum ist die Versorgungslage so schlecht?
Der Eingriff ist immer noch sehr stark stigmatisiert, das schreckt viele ab. Hinzu kommt, dass der Schwangerschaftsabbruch der einzige medizinische Eingriff ist, der im Strafgesetzbuch geregelt ist, im § 218 StGB. Er ist also grundsätzlich rechtswidrig, wird aber in den ersten zwölf Wochen nicht strafverfolgt, wenn bestimmte Bedingungen eingehalten werden, dazu gehören der Beratungszwang und eine Pflicht-Bedenkzeit. Außerdem können Ärzt:innen die Beteiligung an einem Schwangerschaftsabbruch ohne Rechtfertigung etwa aus persönlichen moralischen Gründen verweigern – das wird in der Medizin bei keinem anderen Eingriff ermöglicht. Aber ich vermute, dass es in den wenigsten Fällen tiefgreifende Gewissensgründe sind, wenn Ärzt:innen keinen Abbruch anbieten. Man kommt in der Aus- und Weiterbildung oft schlicht nicht mit dem Thema in Berührung. Hinzu kommt, dass wir in den letzten 30 Jahren in der Gesellschaft wenig über den Abbruch geredet haben und so ein Bild entstanden ist, dass der Zugang in Deutschland gut sei. Das stimmt aber nicht. Ich hoffe, dass jetzt endlich offen darüber gesprochen wird, auch weil wir durch die Streichung des § 219 a einen gesellschaftlichen Moment erleben, in dem das Thema im Bewusstsein ist.
Gibt es bei der Versorgung ein Gefälle zwischen Stadt und Land?
Die Versorgung ist vor allem in Berlin und Hamburg sehr gut und in ländlichen Gebieten überwiegend schlecht. Aber auch in Großstädten wie Münster oder Heidelberg, die sehr christlich geprägt sind, gibt es im Augenblick
keine Möglichkeit, einen chirurgischen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen.
Kann die Streichung des § 219a etwas an der Versorgungslage verändern?
Ich glaube nicht, dass es sehr viel ändern wird. Vielleicht verbessert sich die Informationssituation, wenn sich jetzt mehr Ärzt:innen trauen, Informationen auf ihre Website zu stellen. Wobei man auch hier sagen muss, dass da immer noch das Stigma bleibt und dass die Ärzt:innen immer noch Angst haben, auf Prangerlisten von Abtreibungsgegner:innen zu landen. Das darf man nicht unterschätzen. Da reicht die Abschaffung des § 219a nicht. Das war ein längst überfälliger Schritt, aber es bleibt der § 218, der den Schwangerschaftsabbruch weiter kriminalisiert.
Kann sich die Versorgungslage perspektivisch verbessern?
Das hängt sehr davon ab, was in den nächsten Jahren passiert. Wenn nichts passiert, wird es eher deutlich schlechter werden. Viele Ärzt:innen, die Abtreibungen vornehmen, stehen kurz vor der Rente und die Nachfolger:innen fehlen. Aber wenn wir jetzt in der Gesellschaft den Moment nutzen, dann können wir hoffentlich auch Veränderungen erreichen. Die Möglichkeit haben wir, denn wir haben jetzt erstmals seit 16 Jahren eine Koalition ohne CDU und damit eine Koalition, die grundsätzlich und zumindest in weiten Teilen offen ist für unsere Forderungen.
Über Dr. med. Alicia Baier:
Die Mitgründerin und Vorsitzende von Doctors for Choice Germany e. V. setzt sich für reproduktive Rechte ein. Neben ihrer Arbeit als Ärztin klärt sie öffentlich über die rechtliche und medizinische Situation bei Schwangerschaftsabbrüchen auf.