In den USA häufen sich gerade Klagen gegen Soziale Netzwerke. Und zwar von Eltern, die Instagram, TikTok und Snapchat für psychische Probleme ihrer Kinder verantwortlich machen. Was steckt dahinter – und wie sieht die Lage in Deutschland aus?
Content Note: Dieser Text thematisiert psychische Krankheiten und Suizidalität.
Fast drei von fünf weiblichen Teenagern in den USA fühlten sich 2021 durchgehend traurig. Eines von drei Mädchen zog nach eigenen Angaben ernsthaft in Erwägung, sich das Leben zu nehmen. Zu diesem Schluss kommt die "The Youth Risk Behavior Survey", eine Studie, die den mentalen Gesundheitszustand von US-Jugendlichen erfasst und alle zwei Jahre erscheint. Seit 2011 würden Probleme mit der mentalen Gesundheit unter den Jugendlichen mit jedem Report zunehmen, sagt Dr. Kathleen Ethier der "New York Times" diese Woche. Sie leitet das Adoleszenz- und Schulgesundheitsprogramm der Zentren für Krankheitskontrolle und -prävention, der Behörde, die die Studie alle zwei Jahre durchführt.
Experte sieht Zusammenhang zwischen psychischen Problemen und Social Media
Noch ist das vollständige Ausmaß an Auswirkungen, das soziale Medien auf diese Entwicklung haben, nicht ausreichend wissenschaftlich erforscht. Studien kommen aber immer wieder zum Ergebnis, dass soziale Netzwerke zahlreiche negative Auswirkungen haben – besonders für Menschen, die sie übermäßig nutzen. Eine kanadische Langzeitstudie, an der 4.000 Jugendliche teilnahmen, ergab etwa: Je mehr Zeit die Proband:innen mit sozialen Netzwerken verbrachten, umso stärkere depressive Symptome entwickelten sie.
Auch Dr. Victor Fornari, der stellvertretende Vorsitzende der Kinder- und Jugendpsychiatrie Northwell Health, New Yorks größtem Gesundheitsdienstleister, sieht einen Zusammenhang zwischen der Nutzung von sozialen Netzwerken und dem dramatischen Anstieg in depressiven Verstimmungen und Mental-Health-Problemen bei Jugendlichen.
Und auch Eltern in den USA vermuten einen Zusammenhang zwischen den psychischen Problemen ihrer Kinder und deren Social-Media-Konsum. Auf der Medienplattform "Context" berichtet eine Mutter etwa von ihrer jugendlichen Tochter, die, seit sie 12 Jahre alt ist, immer wieder mit Social-Media-Beiträgen über Selbstverletzung und Essstörungen konfrontiert wurde – bis es ihr immer schlechter ging. Der Vorwurf, den sie jetzt gegenüber sozialen Netzwerken erhebt: Derartige Beiträge würden Jugendlichen durch den Algorithmus gezielt ausgespielt werden. Im August letzten Jahres erhob sie deshalb Anklage gegen Instagram, Snapchat and TikTok – die sozialen Netzwerke, die sie für die psychischen Probleme ihres Kindes verantwortlich macht.
"Hier haben wir ein richtiges, ernstes Problem. Ein so hohes Maß von schweren psychischen Störungen der jungen Generation – das hat es selten gegeben"
Jugendforscher Klaus Hurrelmann gegenüber dem NDR über deutsche JugendlicheTweet
Mehr als 1200 Klagen gegen soziale Netzwerke – von nur einer Anwaltskanzlei
Damit ist sie nicht allein. Aktuell häufen sich in den USA Klagen von Eltern gegen Social-Media-Giganten. Allein die Anwaltskanzlei, die die Familie vertritt, hat im letzten Jahr mehr als 1200 ähnliche Fälle angenommen, mehr als 600 davon haben mit Esstörungen von Jugendlichen zu tun. Die klagenden Eltern fordern, dass die Unternehmen, die die sozialen Netzwerke betreiben, zur Verantwortung gezogen werden. Etwa, indem sie anfallende Kosten für die Schäden, die sie laut den Eltern verursachen, übernehmen. Die betroffenen Unternehmen wollten sich auf Anfrage der Medienplattform "Context" zu einzelnen Klagen nicht äußern, wiesen aber auf die positiven Effekte von Social Media und ihre Bemühungen, soziale Netzwerke sicherer für junge Menschen zu machen, hin. Ob die Klagen gegen sie erfolgreich sind, bleibt abzuwarten, auch wegen komplizierter US-Gesetze. Aber der Frau, die zusammen mit so vielen anderen klagt, geht es offenbar auch um Sensibilisierung. "Ich tue das für Eltern auf der ganzen Welt", sagt sie.
Wie ist die Lage in Deutschland?
Auch in Deutschland ist die Zahl der psychischen Erkrankungen unter Jugendlichen besorgniserregend hoch. Ein Viertel hat laut der aktuellen Studie "Jugend in Deutschland" psychische Probleme. "Hier haben wir ein richtiges, ernstes Problem. Ein so hohes Maß von schweren psychischen Störungen der jungen Generation - das hat es selten gegeben", sagt der Jugendforscher und einer der Studienautoren Klaus Hurrelmann dem NDR zu diesen Zahlen.
Und auch hierzulande schätzen Expert:innen den Social-Media-Konsum Jugendlicher als teils schädlich für die mentale Gesundheit ein. Das Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters kommt in einer Untersuchung im Auftrag einer Krankenkasse etwa zu dem Schluss, dass bei mehr als vier Prozent der 10- bis 17-Jährigen in Deutschland ein sogenanntes pathologisches Nutzungsverhalten vorliegt. Rainer Thomasius, der ärztliche Leiter des Zentrums am UKE Hamburg, warnt davor, dass Jugendliche durch soziale Medien Familie, Freund:innen und private Aktivitäten vernachlässigen würden und einen verschobenen Tag-Nacht-Rhythmus hätten. "Da persönliche, familiäre und schulische Ziele in den Hintergrund treten, werden alterstypische Entwicklungsaufgaben nicht angemessen gelöst. Ein Stillstand in der psychosozialen Reifung ist die Folge", sagt er.
"Sad Tok": Wie Algorithmen gezielt Gefährliches ausspielen
Wie systematisch Jugendlichen gefährliche Inhalte ausgespielt werden, zeigt das Phänomen "Sad Tok". Es ist ein ganzes Subgenre auf der Plattform TikTok, unter dem Menschen Videos über Depressionen, Selbstverletzung und Suizid sprechen – und diese Themen teils sogar glorifizieren. Wie schnell der Algorithmus Menschen in vulnerablen Lebenssituationen diese Videos dann vorschlägt, zeigt ein Experiment von BR Data und PULS Reportage. Journalist:innen von BR Data erstellten dafür mehrere Test-Accounts auf TikTok und simulierten das Verhalten von Personen, die sich für Videos dieser Art interessieren.
Das Ergebnis: Ihr Feed bestand schon kurz darauf fast nur noch aus Inhalten, die Depressionen oder Suizidalität behandeln. Nutzer:innen können dadurch in gefährliche Filterblasen geraten, in denen sie immer wieder mit diesen Themen konfrontiert werden – auch dann, wenn sie das psychisch sehr belastet. Eltern von betroffenen Kindern rät die Psychotherapeutin Anke Glaßmeyer, das Gespräch mit ihren Kindern zu suchen – und sie auf alle Fälle ernst zu nehmen. "Das Kind fragen: Was belastet dich? Warum schaust du dir das die ganze Zeit an?", empfiehlt sie. Wenn man merke, dass tieferliegende Gründe hinter den Inhalten, die sich das eigene Kind ansieht, stecken, solle man professionelle Hilfe, etwa eine Psychotherapie in Betracht ziehen, so Glaßmeyer.
Hinweis: In akuten Krisen kann man sich jederzeit und kostenlos an die Telefonseelsorge unter der Nummer 0800-111 0 111 wenden. Beratungsstellen in der Nähe findet man auf der Seite der Deutschen Depressionshilfe. Hilfe bei der Suche nach einem Therapieplatz bieten die Kassenärztliche Vereinigung des jeweiligen Bundeslandes und die Patiensenservice-Nummer 116 117.
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