Dass unsere vier Wände unseren Charakter und unsere Werte widerspiegeln muss, ist eine völlig überzogene Erwartung, findet unsere Autorin Anna Dunst. Sie hat völlig andere Ansprüche an ihre Wohnung.
Meine Wohnung ist der größte Luxus in meinem Leben – obwohl sie nicht mir gehört und meine Möbel secondhand sind. Ihr Wert besteht in der emotionalen Verbindung, die ich zu ihr habe. Sie ist mein Lieblingsort, mein Rückzug, meine Höhle. Man könnte jetzt vielleicht denken, dass ich mir mit der Einrichtung wahnsinnig viel Mühe gegeben hätte. Tatsächlich ist das nicht so. Farbschema: Grau, die Farbe der Einfallslosen. Kunst an den Wänden: Fehlanzeige. Liebevolle Details: spärlich vorhanden.
Welche Wohnung sieht schon aus wie im Instagram-Feed?
Dabei ist es nicht so, als würde ich über sorgfältig gewählte Einrichtungskonzepte oder liebevoll kuratierte Wohnaccessoires die Nase rümpfen, im Gegenteil. Ich finde es toll, wenn Menschen es schaffen, dass ihr Zuhause ihr Innenleben, ihre Werte und Erfahrungen widerspiegelt. Und ich kann dem derzeitigen Trend, dass Wohnungen nicht mehr aussehen wie Katalog-Einheitsbrei, sondern nach dem Credo „Je individueller, desto besser“ eingerichtet werden, viel abgewinnen. Aber wenn wir auf Instagram durch #interiorgoals scrollen, wissen wir doch insgeheim: So sieht es bei den wenigsten aus. Weil in der Wohnung vielleicht auch zwei kleine Kinder rumhopsen, die der kuratierten Ästhetik mit Buntstiften bewaffnet einen Strich durch die Rechnung machen. Oder weil der Partner oder die Partnerin womöglich kein Fan des eigenen Wohnstils ist, sondern eher auf LED-Schriftzüge oder Star-Wars-Figuren steht. Ganz zu schweigen von der Katze, die regelmäßig Vasen umwirft und lieber die Couch als ihren Kratzbaum nutzt.
Zuhause ist mehr als eine schicke Couch
Eine Wohnung ist eben häufig nicht nur für einen selbst da, sondern oft auch ein Raum der Kompromisse, die wir für unsere menschlichen oder tierischen Mitbewohner:innen eingehen. Für sie nehmen wir Abstriche bei der Einrichtung in Kauf, dafür sind sie aber auch diejenigen, die eine Wohnung erst zu einem Zuhause machen. Denn Wohnen definiert sich ja nicht nur darüber, ein Dach über dem Kopf zu haben oder schicke Möbel zu besitzen, sondern über ein Gefühl. Und das entsteht besonders dann, wenn man jemanden hat, mit dem man es teilen kann.
Vielleicht sollten wir also ein bisschen gelassener werden, was die Frage angeht, wie viel Persönlichkeit wirklich in unseren vier Wänden stecken muss. Und auch ab und an hinterfragen, warum wir Wohnungen überhaupt als Ausdruck der Persönlichkeit hochstilisieren. Am Ende zählt doch eigentlich nur, dass man sich in den eigenen vier Wänden wohlfühlt. Vielleicht ist es also gar nicht schlimm, wenn es mir partout nicht gelingt, mein Zuhause meinem Charakter entsprechend zu gestalten. Und irgendwie ist es doch auch entlastend, wenn in unserer anspruchsvollen Welt die Wohnung ein Raum sein darf, an den keine großartigen Ansprüche gestellt werden – im besten Sinne.
Dieser Text erschien zuerst in EMOTION 10/23.
Mehr Themen: