Auf TikTok gibt es einen neuen Trend: Wohnungen voller Nippes. Cluttercore heißt die überbordende Ästhetik, die Aufräumgurus in den Wahnsinn treiben dürfte. Worin liegt der Reiz des Gerümpels?
Beige, so weit das Auge reicht – das war's. So lässt sich Kim Kardashians Einrichtungsstil wohl am besten beschreiben. Ihre 60-Millionen-Dollar-Villa in Los Angeles, die sie 2020 im Interior-Magazin "Architectural Digest" zeigte, gleicht eher einer leeren Kunstgalerie als einem gemütlichen Zuhause. Dass hier irgendwer lebt (geschweige denn eine Großfamilie mit vier kleinen Kindern), kann man sich kaum vorstellen. Es ist Minimalismus at its finest – und voll im Trend.
Aber wie es so ist mit Trends, auch zu Kims Traum in Off-White gibt es eine Gegenbewegung. Beim Cluttercore, dem neuesten Einrichtungs-Hype auf TikTok, geht es darum, sämtlichen Krimskrams (engl.: "clutter"), der sich angesammelt hat, in der Wohnung zu präsentieren – in Regalen, an Wänden, auf Kommoden. Kurz gesagt: Cluttercore ist Marie Kondos persönliche Hölle. Wenn die Aufräum-Expertin die TikToker:innen, wie üblich bei ihrer KonMari-Methode, fragen würde, welche Gegenstände sie glücklich machen (der Rest muss weg), würden die voller Inbrunst antworten: "Na, alle!"
Eine Sammlung von Erinnerungen
Das Sammelsurium der Cluttercore-Girls und -Boys besteht aber nicht etwa aus wahllosen Gegenständen. An jedem einzelnen Teil hängt ein emotionaler Wert, erklärt uns die 21-jährige Marisa Toro alias @masa.toro. "Manchen mag meine Sammlung von Spielzeugen, Kuscheltieren und Schlüsselanhängern bedeutungslos erscheinen, aber mir ist sie total wichtig. Es sind für mich wertvolle Erinnerungsstücke." Cluttercore sei für die mexikanische Künstlerin, die in Los Angeles lebt, eine Art Selbstverwirklichung. Damit kann sich auch Mollie Ruck identifizieren. Die 20-jährige Britin (bei TikTok: @carr0tstick, auf Instagram: @mollieruck) sieht ihre Kollektion aus Pflanzen und Kristallen als Kunstprojekt. "Es erfüllt mich, zu sehen, was ich alles angesammelt habe."
Dabei kann Cluttercore ganz unterschiedlich aussehen. Im Prinzip ist jede Ästhetik dafür geeignet: ob Barbieoptik oder mystischer Hexenstyle mit Tarotkarten und Glaskugel ... alles geht. So lässt sich Sarah Hunnels Einrichtungsstil wohl am ehesten als Plantcore bezeichnen. Ihr Schlafzimmer ähnelt einem kleinen Gewächshaus, in dem sich ihre vielen Pflanzen nach Lust und Laune ausbreiten können. "Ich mag es, dass es so unperfekt aussieht und Persönlichkeit hat. Ich brauche ein Zuhause, das mit mir und meinen Interessen wächst und sich verändert", so die 21-jährige US-Amerikanerin, die auf Instagram und TikTok passenderweise @houseplant.mother heißt.
Ordnung im Chaos
Als unordentlich würden sich die drei alle nicht beschreiben. Cluttercore sei eher ein geordnetes Chaos. "Es ist sauber und jeder Gegenstand hat seinen festen und durchdachten Platz", sagt Sarah. Also fast so wie in einem voll gestellten Antiquitätengeschäft. Genau da bekommen die meisten aus der Cluttercore-Anhängerschaft übrigens auch ihre Dekoration her. Sie sind sich bewusst, dass die Massenproduktion in unserer Konsumgesellschaft der Umwelt schadet. "Deswegen kaufe ich nur in Secondhandshops ein", betont Mollie Ruck.
Minimalismus vs. Maximalismus steht auch für einen Clash der Generationen. Während Millennials dem Motto "Less is more" folgen, hält sich die Gen Z lieber an den postmodernen Architekten Robert Venturi: "Less is a bore!" Sie scheuen sich nicht davor, zu zeigen, was sie lieben, weil das ausdrückt, wer sie sind. Alles ist lauter, plakativer und vor allem: bunter. Das zarte Rosa des Millennial Pinks war mal, die Gen Z will nicht mehr unauffällig und zurückhaltend sein. Das gilt für das eigene Zuhause genauso wie für politische Räume.
Eine Therapie gegen weltliche Unordnung
Es ergibt Sinn, dass gerade die Gen Z Gefallen am Cluttercore-Trend findet. Sie ist eine Generation junger Menschen, die quasi im Chaos aufgewachsen sind, inmitten von Krieg, Pandemie und Klimakrise. Es wäre nicht verwunderlich, wenn Cluttercore für viele von ihnen eine Art absurde Therapie gegen die weltliche Unordnung wäre. Hier haben sie wenigstens die Möglichkeit, das Chaos um sich herum zu kontrollieren und zu sortieren.
In Zeiten wie diesen kann es trostspendend sein, sich von Dingen zu umgeben, die uns ein heimeliges Gefühl geben, Dinge, an denen schöne Erinnerungen hängen. Das ist wie Blättern durch ein altes Fotoalbum. Also, wieso sollte man die Dinge, die einen glücklich machen, hinter beigen Schranktüren einsperren?
Dieser Artikel erschien zuerst im EMOTION-Heft 11/22.
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