Richtig dirigiert kann die innere Stimme eine Superkraft sein
Die beiden Psychiater:innen Valerija Sipos und Ulrich Schweiger (siehe Buchtipps auf der nächsten Seite) raten: "Wir müssen uns von der naiven Annahme verabschieden, dass das Gehirn ein guter Freund ist, der uns unter allen Umständen das Richtige rät und Gutes tut." Im Gegenteil: Das Gehirn spiele manchmal regelrecht verrückt und müsse wieder eingefangen werden. "Manchmal verrennt es sich in Sackgassen und verschweigt, dass es auch einen Rückwärtsgang gibt."
Statt uns aber von dem Geplapper unseres Gehirns aus der Bahn werfen zu lassen, können wir unsere innere Radiostation genauso als hilfreiches Werkzeug nutzen. Ethan Kross ist überzeugt, dass unsere innere Stimme, richtig dirigiert, eine Superkraft sein kann, ein smarter Coach, der uns gut durch den Tag leitet.
Ganz ohne sie wären wir auch arm dran! Denn dank unserer eifrigen inneren Konversation können wir Entscheidungen abwägen, Alternativen durchdenken, unsere Ziele im Auge behalten, Emotionen kontrollieren, uns an Vergangenes erinnern und die Zukunft ausmalen. Es sei ein großer Fehler, die Stimme in unserem Kopf nur dann wertzuschätzen, wenn sie unsere Emotionen beflügelt, sagt Kross. "Unsere Fähigkeit, Furcht, Besorgnis, Wut und andere schmerzliche Gefühle zu empfinden, scheint uns zwar manchmal im Wege zu stehen, doch in kleinen Dosen haben diese Empfindungen durchaus ihren Sinn und Zweck: Solche Gefühlemobilisieren uns, erlauben uns, auf Veränderungen in unserer Umgebung zielführend zu reagieren."
Wie wir unsere innere Stimme bändigen
Ethan Kross hat dafür eine Toolbox zusammengestellt, eine Art psychologische Hausapotheke.
Distanzieren
Sobald es uns gelingt, innerlich einen Schritt zurückzutreten, bekommt auch die Stimme in uns einen anderen Tonfall. Sie wird milder, reflektierter, differenzierter und zukunftsorientierter. Einfache Techniken helfen, diesen gesunden Abstand zu finden. Wenn du das nächste Mal über einen Konflikt oder eine blöde Situation nachgrübelst, versuch dich an das Geschehene aus der Perspektive einer Fliege an der Wand zu erinnern. Falls du Insekten nicht magst, zoom dich gedanklich noch weiter von der Situation weg. Beobachte das Ganze wie eine unbeteiligte Zuschauerin.
Der Lohn sind Ruhe und (Selbst-)Erkenntnis. Die Zeit, in der du wütend und traurig bist, verkürzt sich merklich. "Distanzierung bringt emotionale Buschfeuer zum Erlöschen, ehe sie sich zu einem länger andauernden Flächenbrand entwickeln", sagt Kross. Auch Sprache kann ein Abstandsregler sein. Studien zeigen, dass der häufige Gebrauch des Personalpronomens der ersten Person – man spricht hier von I-Talk – ein verlässlicher Hinweis auf negative Gefühle und sogar mögliche Depressionen ist. Wenn unsere innere Stimme auf Hochtouren läuft, können wir sie mäßigen und in die richtigen Bahnen lenken, indem wir in Gedanken vom "ich" zum "du" der zweiten Person oder dem "er" oder "sie" der dritten Person wechseln. Hört sich zunächst seltsam an, von sich selbst in der zweiten oder dritten Person zu sprechen, die Wirkung ist jedoch erstaunlich.
Ordnung schaffen
Der Spruch "Ordnung ist das halbe Leben" wirkt veraltet, doch wenn das Chaos in uns tobt, hilft äußere Ordnung ungemein. Der Tennisspieler Rafael Nadal legt seine Turnierkarte zum Beispiel stets mit der Fotoseite nach oben und richtet die Getränkeflaschen im rechten Winkel aus. Das helfe ihm, sich auf das Match zu konzentrieren und im Kopf die Ordnung zu finden, die er anstrebe, sagt er. Soll man also aufgewühlt den Schrank aufräumen? Gute Idee! Damit simuliert man im Außen die Ordnung, die dem aufgebrachten Geist gerade fehlt. Unser Gehirn bedankt sich für die Fleißarbeit mit klareren Gedanken. Psycholog:innen nennen diese Methode "kompensatorische Kontrolle".
Die ideale Beratung wählen
Ein gutes Gespräch hilft immer weiter? Das stimmt nicht ganz. Ein Telefonat mit der besten Freundin macht unter Umständen alles nur noch schlimmer, denn wenn unsere innere Stimme so richtig in Fahrt ist, entwickeln wir den starken Drang, vor allem unsere emotionalen Bedürfnisse befriedigt sehen zu wollen – auf Kosten ihrer kognitiven Gegenparts. Wir wollen Anteilnahme und Trost erfahren, aber sind weniger an einer praktikablen Lösung interessiert. "Dieses Dilemma wird noch dadurch verschärft, dass auf der Seite der Helfenden das gleiche Problem besteht. Sie räumen den emotionalen Bedürfnissen den Vorrang gegenüber den kognitiven ein; sie sehen unsere (seelische) Not und geben sich alle Mühe, uns vor allem mit Zuwendung und Bestätigung zur Seite zu stehen", sagt Kross. "Einfach mal darüber sprechen" – die Wissenschaft nennt das uncharmant "Co-Rumination", gemeinsames Wiederkäuen. Negative Gefühle und Gedanken werden so zwar kurzfristig gedämpft (wegen der Nähe und Anteilnahme), aber mittel- und langfristig verstärkt (weil das Gedankenkarussell so noch tiefere Spuren im Gehirn hinterlassen kann).
Was wir tatsächlich von anderen brauchen, damit unsere innere Stimme weniger zetert und uns besser berät, ist eine gute Balance von Trost und Intellekt, von Anteilnahme und Analyse. Oder für Fans der TV-Serie "Raumschiff Enterprise": etwas weniger Captain Kirk, etwas mehr Mister Spock. Das sollten wir uns zu Herzen nehmen und im Hinterkopf behalten, wenn uns eine Freundin das nächste Mal ihr Herz ausschüttet – oder wir selbst unsere innere Stimme auf laut stellen.
Dieser Artikel erschien erstmals in EMOTION 3/22.
Mehr Themen: