Dem Druck der alten Ideale setzt sie seit einiger Zeit neue Ideen von Schönheit entgegen: die Body-Positivity-Bewegung. Heißt das, wir können uns nun alle schön fühlen? Schön wär’s. Wie wir es schaffen, endlich liebevoll auf uns selbst zu blicken.
Als ich 15 war, war sie plötzlich da: meine Cellulite. Ich habe dagegen angecremt, Sport gemacht, keine kurzen Hosen getragen, weil der Anblick meiner blassen Oberschenkel nur einen Gedanken zuließ: hässlich! Doch seit ich auf Instagram einer Künstlerin namens Frances Cannon folge, beginnt sich mein Blick zu verändern. Ich folge ihr wegen ihrer Zeichnungen, die ich schön finde; weniger wegen der Selfies, die sie zwischendurch postet. Da zeigt sie sich oft in Unterwäsche, mit großen Oberschenkeln, Dehnungsstreifen und: ihrer Cellulite. Irgendwie unvorteilhaft. Irgendwie gewöhnungsbedürftig. Das gehört zur Body-Positivity-Bewegung. Ich bleibe wegen ihrer Kunst – und, um meinen Blick bewusst umzugewöhnen.
Können wir uns alle schön fühlen?
In meinem Umfeld erlebe ich allerdings eine erste Body-Positivity-Müdigkeit. "Ich kann mich nicht immer selbst lieben und schön finden", sagen meine Freundinnen. Ich weiß, was sie meinen, aber ich halte ihnen entgegen: Wir sollten den Schönheitsbegriff ausdehnen. Noch verbinden wir mit Schönheit all das, was Jugendlichkeit und Gesundheit ausstrahlt und schlussfolgern: Wer schön ist, ist auch glücklich und erfolgreich. Seit Jahrzehnten geben uns normierte Ideale vor, wie wir idealerweise auszusehen haben: in den 20ern knabenhaft, in den 50ern bitte eine Sanduhrfigur, in den 90ern athletische Supermodels.
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Zum Glück sind die Ideale heute vielfältiger. Es gibt super kurvige Frauen wie Beyoncé und Kim Kardashian neben Sport-Influencerinnen und Models. Es gibt eine lebensbejahende Lizzo, die ihren großen Po in Dessous präsentiert, neben einer Billie Eilish, die in Oversize-T-Shirts und mit exzentrischem Schmuck berühmt geworden ist. Können heute also alle das Gefühl haben: "Ich bin schön"? Frauen mit großem Po werfen sich einfach in hautenge Kleider, die schmalen Frauen tragen bauchfrei und wer gar keinen Bock auf das alles hat, färbt sich die Haare grün. Und zieht am nächsten Tag dann doch mal eine Korsage an. Alles ist möglich. Klingt doch gut. Oder?
Wahre Schönheit oder kreative Selbstinszenierung?
Wenn wir aber genauer hinschauen, haben all diese vermeintlich so unterschiedlichen Frauen doch einiges gemeinsam: Sie haben reine Haut, gesunde Haare, hohe Wangenknochen und volle Lippen. Da sind sie wieder, genau die Merkmale, die seit jeher als attraktiv gelten: Jugendlichkeit, Symmetrie, alles, was Gesundheit ausstrahlt. Diese Frauen sind zwar nicht klassisch makellos, aber sie müssen andere Anforderungen erfüllen, damit wir sie schön finden: Großer Po, okay. Aber er sollte schon ästhetisch präsentiert werden. Vor allem mit einergroßen Portion Selbstbewusstsein. Es reicht also immer noch nicht, den eigenen Körper so anzunehmen, wie er ist. Das Prädikat "schön" muss durch Inszenierung verdient werden. Und all diese Frauen, die uns gerade als Schönheitsvorbilder dienen, scheinen eine große Freude an der Selbstdarstellung zu empfinden.
Genau das sei das eigentliche Schönheitsideal dieser Zeit, sagt die Soziologin Paula-Irene Villa in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur. Es gehe weniger um einen spezifischen Look, sondern um die Inszenierung: "Die Norm scheint mir im Moment: Wer kriegt es am perfektesten, am tollsten, am beeindruckendsten hin, den eigenen Körper kreativ und originell zu stylen." Bei dieser Inszenierung mithalten zu können, erzeugt Druck. Muss ich mir die Haare pink färben, meine Lippen aufspritzen lassen oder Instagramfilter verwenden, wenn ich Fotos von mir poste?
Den eigenen Körper gestalten
Als Vorreiterin dieser Selbstinszenierungskultur nennt Paula-Irene Villa Lady Gaga. Schon 2011 trug die Sängerin Schulter- und Wangenimplantate, die wie Hörner aussahen. Eine Ästhetik des Grotesken, die auch Billie Eilish weitergeführt hat. Sie waren nicht die einzigen Stars, die ihr Aussehen bis an die Grenzen des "guten" Geschmacks modifizierten – von extremen Contouring über bearbeitete Fotos bis hin zu Schönheits-OPs. Ich habe das Gefühl, Influencerinnen und Sängerinnen sehen alle gleich aus. Muss ich nicht unbedingt haben. Und selbst wenn ich wollte: Ich könnte mir das gar nicht leisten. Denn: Selbstinszenierung ist teuer.
Andererseits kann die Anpassung des eigenen Körpers ein Mittel zur Selbstermächtigung sein. Wenn wir den Körper nicht als naturgegeben hinnehmen, sondern als etwas Gestaltbares verstehen, kann das befreiend sein. Besonders für Menschen, die in einem Körper geboren wurden, der nicht zu ihrer Geschlechtsidentität passt, oder die auf Prothesen angewiesen sind. Weil allmählich gesellschaftlich akzeptiert wird, dass wir unseren Körper so verändern, dass er zu dem passt, wie wir uns sehen – und gesehen werden wollen.
Gegen die Schönheitsnormen ankämpfen
Die Body-Positivity-Bewegung hat unsere Sehgewohnheiten schon jetzt verändert. Menschen, die nicht gängigen Vorstellungen von "schön" entsprechen, sind sichtbarer geworden. Noch ist es ein eher nischiges Phänomen, sich so selbstverständlich zu zeigen wie die Künstlerin Frances Cannon. Aber auch followerstarke YouTuberinnen und Tik-Tokerinnen wie Emma Chamberlain oder Charli D’Amelio zeigen sich ungeschminkt und mit Pickeln. Und brechen damit die Schönheitsnormen für Mädchen und junge Frauen weltweit auf.
Das vielleicht Beste daran: Wenn sich unser Schönheitsbegriff erweitert, begegnen wir Menschen mit weniger Vorurteilen. Die Attraktivitätsforschung hat immer wieder gezeigt: Menschen, die als schön wahrgenommen werden, gelten auch als erfolgreicher, intelligenter und vertrauensvoller. So lange wir also "schön" mit "besser in jeder Hinsicht" gleichsetzen, werden im Umkehrschluss alle mit Makeln schlechter bewertet. Also, liebe Freundinnen, ist die Body-Positivity-Bewegung vielleicht manchmal nervig, aber wichtig!
Den Makeln eine neue Bedeutung geben
Ein Anfang ist gemacht, aber da ist noch Luft nach oben. Fordern wir unsere Sehgewohnheiten heraus. Lassen wir Kim Kardashian und Billie Eilish mal links liegen und nehmen uns normalsterbliche Frauen als Vorbilder. Schauen wir lieber Frauen mit Körperbehaarung, Pickeln und Bäuchen an und verbinden damit positive Eigenschaften. Makellos werden wir eh niemals sein, weil Makellosigkeit immer konstruiert ist.
Lasst uns der vermeintlichen Makellosigkeit eine neue Bedeutung geben. Zum Beispiel: nice to have, aber unrealistisch. Und genauso können wir Makeln eine neue Bedeutung geben. So wie bei Frances Cannon. Über die vergangenen Jahre habe ich die ungeschönten Selfies der Künstlerin mit ihren Zeichnungen verknüpft. "Cellulite" bedeutet jetzt für mich auch "Talent". Eine unsinnige Assoziation? Ja. Aber auch nicht unsinniger als: "schlanke Beine" gleich "glücklich". Bei mir wirkt diese neue Sehgewohnheit. Wenn ich jetzt auf meine nackten Beine schaue, dann sehe ich nicht mehr den Körper einer blassen, sportfaulen Frau. Sondern den einer kreativen und selbstbestimmten Frau.
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 1/22.
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