Warum gerate ich nur immer an Egoman:innen und Narzisst:innen, die mich emotional erdrücken? Wer sich diese Frage stellt, ist vielleicht ein "People Pleaser". Jemand, der es ganz normal findet, dass andere wichtiger sind als man selbst.
Die kleine Schwester von nett ist...
Einen Tag vorher sagte er ab. Per Whatsapp. Zu viel zu tun, zu viel Stress im Job, sorry, sorry. Die seit Monaten geplante Reise trat die Freundin allein an. Sie war traurig, bezahlte das Doppelzimmer, in dem sie nun allein schlief – und freute sich wahnsinnig, als er spontan die Zeit fand, sie zwei Wochen später am Bahnhof abzuholen. Dass er sich an den Reisekosten nicht mehr beteiligen wollte, na ja, irgendwie verständlich, wo er doch nicht mitfahren konnte.
Es gibt Menschen, die werden einfach nicht wütend. Sie sind stets gesprächsbereit und verständnisvoll. Läuft etwas schief, suchen sie den Fehler selbstkritisch zunächst bei sich selbst. Statt zu motzen, verzeihen sie. Sie geben anderen Menschen eine zweite (oder auch dritte, vierte oder fünfte) Chance. Sie sind zuverlässige Kolleg:innen, mit denen man gern zusammenarbeitet, hilfsbereite, geduldige Freund:innen, auf die man sich immer verlassen kann. Es sind Menschen wie jene Bekannte, die mit einer Kollegin Unschönes bei einem Projekt erlebte: Beim gemeinsamen Vortrag vor großem Publikum machte diese wie aus dem Nichts eine ziemlich abwertende Bemerkung über sie – und wusste hinterher angeblich nicht, wovon die Rede ist. Die Bekannte ging großzügig darüber hinweg: "Die Frau ist halt so. Hauptsache, unser Projekt ist ein Erfolg."
Selbstlosigkeit ist nur bedingt ratsam
Tatsächlich ist ein hohes Maß an Verträglichkeit, wie Psychologen dieses Persönlichkeitsmerkmal nennen, enorm hilfreich, um das Leben erfolgreich zu meistern – das ist in Studien immer wieder belegt worden. Nach dem "Big Five"-Persönlichkeitsmodell gelten Menschen, bei denen diese Eigenschaft stark ausgeprägt ist, als kooperativ, empathisch, rücksichtsvoll und gutherzig. Aber kann man auch zu nett sein? So verträglich, dass es selbstschädigend ist? So kompromissbereit, dass daraus dysfunktionale Beziehungen erwachsen?
Manche Menschen hätten ein nahezu neurotisches Bedürfnis, stets das "good girl" oder der "good boy" zu sein, meint der Psychologe Richard Grannon. Er sieht die übergroße Freundlichkeit kritisch. "Das ist ein ungesundes Verharren in kindlicher Naivität – und ein weit geöffnetes Einfallstor für ausbeuterische Menschen", so der Brite, der als einer der ersten das Thema "narzisstischer Missbrauch" auf Youtube groß gemacht hat. Er und andere Coaches und Psycholog:innen bezeichnen jene, die zu oft und lange nett sind, anschaulich als "People Pleaser". "Dieses Verhalten ist in keinem Handbuch als Störung aufgeführt. Aber in der Praxis kann man bei Menschen, die missbräuchliche Beziehungen eingehen, häufig bestimmte Denk- und Verhaltensweisen feststellen, die man anschaulich als 'People Pleaser Syndrome' zusammen fassen kann", sagt Grannon.
Die Erziehung legt unsere Toleranzgrenze fest
Genauer bei sich hinzuschauen, was hinter diesem netten, sehr verträglichen Verhalten steckt, kann sinnvoll sein. Diese Fragen helfen bei der Klärung: Wie sieht meine Beziehungshistorie aus, in der Liebe, in Freundschaften, in der Familie, im Job? Ist es schon öfter vorgekommen, dass ich ausgenutzt oder hintergangen worden bin? Erspüre ich schnell die Launen anderer Menschen? Blühe ich auf, wenn die dunklen Wolken sich verziehen und mir wieder Wohlwollen entgegengebracht wird? Achte ich mehr auf die Bedürfnisse meines Partners oder meiner Partnerin, meiner Freund:innen oder Kolleg:innen als umgekehrt? Entschuldige ich das Fehlverhalten anderer schnell, damit wieder alles gut ist? "Dann kann es sein, dass das Muster sind, die bereits aus der Kindheit stammen, die auf einen schwachen Selbstwert und eine ungesunde Toleranz für übergriffiges Verhalten hinweisen", meint Coachin Marie Schmoll, die zum Thema berät, bloggt und vloggt ("Narzissmus verstehen").
Der Kern einer solchen Selbstwertproblematik, die Ursache fürs People Pleasing, entsteht schon oft in ganz jungen Jahren. In der Kindheit hat sich durch eine ungesunde Dynamik in der Ursprungsfamilie ein falsches Schlüssel-Schloss-Prinzip entwickelt. Man empfindet es als "passend", mehr zu geben als zu bekommen und lieblos behandelt zu werden, übernimmt die Rolle der oder des Schuldigen, geht in die Überverantwortlichkeit. All das fühlt sich auf eine traurige Weise vertraut und richtig an. "Im extremen Fall hat man es nicht gelernt, dass es okay und manchmal notwendig ist, Grenzen zu setzen. Vielleicht hatte man krankhaft narzisstische Eltern, die diesen Entwicklungsprozess verhindert haben", sagt Marie Schmoll.
Das Thema Narzissmus wird immer bekannter
Liebe, Aufmerksamkeit und Zuwendung gab es in solchen Familien nur gegen Leistung: Als Kind war man dafür zuständig, dass der vielleicht traumatisierte, suchterkrankte, depressive, extrem unreflektierte oder eben narzisstische Elternteil sich gut fühlt. Das Ergebnis einer solchen Kindheit ist ein Erwachsener, der in Beziehungen selbstlos agiert, der seine eigenen Bedürfnisse verleugnet, – und der sich in Beziehungen mit egoistischen und selbstzentrierten Menschen sicher und vertraut fühlt. Aus dem kleinen angepassten Kind wird ein perfekte:r Partner:in für Egozentriker:innen aller Art.
Gibt man bei Google Trends Begriffe wie "narcissistic abuse" oder "narzisstische Gewalt" ein, ist das zunehmende Interesse am Thema deutlich erkennbar. Seit 2016 gibt es den World Narcisstic Abuse Awareness Day. Die Community wächst, ebenso Youtube-Kanäle und Blogs, in denen Betroffene sich zu Wort melden. Viele von ihnen beschreiben toxische Beziehungen vor allem als Opfer-Täter-Konstellation. Auf der einen Seite die gutmütigen, freundlichen Empath:innen auf der anderen Seite die schädigenden Narzisst:innen. Doch die Kommunikation wird zunehmend differenzierter. Psycholog:innen und Betroffene gucken inzwischen genauer auf die Dynamik, analysieren auch die Rolle der "Opfer" in solchen ungesunden Beziehungen.
Keiner kann einen anderen Menschen retten
Der Hamburger Psychologe Christian Hemschemeier etwa ist überzeugt, dass es vor allem wichtig sei, den eigenen Anteil an der toxischen Beziehung zu erkennen – das brächte die Veränderung. Stecken die Betroffenen noch tief in der Beziehung (und im "People Pleaser"-Modus), seien sie jedoch extrem auf den Partner fokussiert, hat Hemschemeier in vielen Beratungen beobachtet. "Sie wollen den anderen retten, ihn 'irgendwo rauslieben'. Aber das funktioniert nicht. Ich bin seit über zwanzig Jahren Paartherapeut und kann nur sagen, es geht nicht!", sagt Hemschemeier.
Wichtig seien stattdessen klare Ich-Grenzen. Sein Konzept für gesündere Beziehungen heißt "Standards und Dealbreaker". Standards sind Wünsche und Erwartungen an eine Beziehung, die mir wichtig sind. Also zum Beispiel, ich möchte, dass sich mein:e Partner:in auf eine Whatsapp innerhalb von so und so vielen Stunden meldet. Dealbreaker sind all die Standards, die unter keinen Umständen verhandelbar sind. Dinge, die zur sofortigen Trennung führen, ohne dass es noch groß etwas zu überlegen oder zu besprechen gibt. Das kann zum Beispiel körperliche Gewalt sein. Oder Fremdgehen. Oder Illoyalität. Oder Lügen in wesentlichen Punkten. Oder ein ausbleibendes Commitment bei entscheidenden Fragen wie etwa dem Kinderwunsch. Das muss jede:r für sich individuell festlegen. Dealbreaker markieren gewissermaßen die persönliche rote Linie. Wird sie überschritten, ist die Beziehung vorbei.
Schluss mit nett – forever!
"Das Schöne an diesem Konzept ist: Ich muss gar nicht wissen, warum der andere sich so oder so verhält. Es geht nur darum: Werden meine Bedürfnisse in dieser Beziehung erfüllt oder nicht? Ich bleibe ganz bei mir. Das verhindert, dass man anfängt, darüber nach zudenken, ob der Partner oder die Partnerin Angst vor Nähe hat oder vielleicht ein:e Narzisst:in oder ein:e Borderliner:in ist", sagt Hemschemeier. Zu ergründen, ob es so ist oder nicht, sei nämlich letztendlich völlige Zeitverschwendung, weil das Wissen darum an der Beziehung nichts ändert. Es passt nicht. Fertig. Das reicht.
Dieser Artikel erschien zuerst im EMOTION Sonderheft Liebe 02/22.
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