Ein stabiles Verhältnis von Nähe und Distanz? Gibt es nicht, sagt die Berliner Paartherapeutin Berit Brockhausen. Wir müssen unser Bedürfnis nach Nähe immer wieder mit dem Wunsch nach Selbstbestimmung ausbalancieren. Was das konkret heißt.
Tendieren wir in der Liebe dazu, unsere:n Partner:in in eine Rolle zu drängen?
Wir finden uns eher in einer bestimmten Konstellation wieder, die daraus entsteht, dass wir zusammen sein wollen, aber unterschiedlich sind. Wenn der Lieblingsmensch in einer bestimmten Situation ein bisschen mehr will – zum Beispiel mehr Ordnung, mehr Ausgehen oder mehr Sex –, bin ich automatisch in der Rolle der Wenigerwollenden. Beides ist keine böse Absicht. Wir haben unsere eigene Position im Beziehungssystem, und die ist mit einem ganz bestimmten Verhalten verbunden, es ist quasi die Aufgabenbeschreibung: Als Mehrwollende:r musst du anregen, initiieren, antreiben, anmahnen. Als Wenigerwollende:r muss ich ablehnen, bremsen, aufschieben, oder mehr oder weniger enthusiastisch mitmachen.
Gibt es denn typische Rollen, die immer wieder in Beziehungen auftreten?
Ein Klassiker ist das Thema Schmutztoleranz. Da ist schnell eine:r der Putzteufel. Oder wenn sich eine:r mit Entscheidungen leichter tut, steht der oder die andere dauernd als zaudernd da.
Ziehen sich Gegensätze etwa doch an?
Tatsächlich hat das oft wenig mit dem wahren Charakter zu tun. Das zeigt sich, wenn wir in einer neuen Beziehung sind und die Einstellung zur Ordnung ähnlich entspannt ist, und wir uns plötzlich selbst ständig in der Rolle des Ordnungsapostels wiederfinden. Manchmal nerven diese Rollen – aber sie geben uns auch Sicherheit. Wir können einander einschätzen und erleben keine unangenehmen Überraschungen. Zuschreibungen machen das Leben eben leichter: Ich kann organisieren, du bist gut darin, Dinge zu reparieren. Ich genieße es, auf Partys für uns den Eisbrecher zu spielen, während du allein zu schüchtern wärst. Du magst es, wenn ich dich mitreiße, und mir tut es gut, wenn du mich in anderen Situationen beruhigst und erdest.
Wieso fällt es uns oft so schwer, auszuhalten, wenn sich unser:e Partner:in weiterentwickelt?
Weil es verunsichert. Ganz gleich, wie zufrieden oder unzufrieden wir mit unseren Rollen sind, wir wissen durch sie wenigstens, woran wir sind. Beide haben sich damit arrangiert. Sobald sich daran etwas ändert, kann ich mich nicht mehr auf das Vertraute verlassen. Das ist bestenfalls unbequem, aber meistens macht es Angst.
Es heißt, wir hören allen anderen besser zu als dem Menschen an unserer Seite. Ist das wirklich so?
Meist ja. Wenn andere Menschen anders denken als wir, andere Meinungen haben oder andere Dinge wollen, ist das – gerade in Freundschaften – auch schon mal schwierig. Aber es ist noch lange nicht so bedrohlich, wie ein Gespräch mit dem Lieblingsmenschen. Was, wenn ich höre, dass mein Gegenüber mit Dingen unzufrieden ist, über die ich ganz froh bin? Wenn wir darüber nicht reden, oder wenn ich nicht so genau zuhöre, muss ich mich dem nicht stellen.
Wie können wir dem Menschen, den wir durch und durch zu kennen glauben, wie es in langjährigen Beziehungen oft ist, Veränderungen zugestehen?
Indem wir akzeptieren, dass Unterschiede dazugehören. Auch, wenn manche Unterschiede doof sind. Dass Verunsicherung und Enttäuschung unvermeidbar sind. All diese Gefühle sind ein Zeichen, dass mit der Beziehung alles in Ordnung ist, dass sie lebendig ist, dass sie sich verändert und wir uns mit ihr. Das Wichtige ist aber eigentlich, zunehmend Sicherheit aus sich selbst zu ziehen. Dann bin ich nämlich nicht mehr darauf angewiesen, dass mein:e Partner:in dauerhaft auf eine bestimmte Art funktioniert, damit ich keine Angst bekomme. Veränderungen kommen immer zum ungelegenen Zeitpunkt und sie stellen das Bisherige infrage. Wir müssen aushalten, dass wir nicht genau wissen, wie es dann weitergeht, dass das vertraute Gleichgewicht ins Wanken kommt. Das ist keine Zeit für Vorwürfe, Druck oder Selbstzweifel – obwohl auch die dazugehören. Was jetzt hilft, sind Neugier und das Vertrauen, dass andere Paare diesen Prozess bereits erfolgreich durchlaufen haben. Warum also nicht auch wir?
Und wie schaffe ich es, mir selbst in der Beziehung den Raum zu nehmen, den ich brauche?
Solange ich die Erlaubnis brauche, mir Raum zu nehmen, mache ich den anderen zum Täter und mich zum Opfer. Das sind richtig beziehungsfeindliche Rollen. Dagegen hilft, meinem Gegenüber die Freiheit zu lassen, enttäuscht von mir zu sein – nicht in einer "Ist mir doch egal, wie es dir geht"-Haltung, sondern mitfühlend und klar.
Dieser Artikel erschien zuerst in EMOTION 6/23.
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