Wenn wir unsere vier Wände in einen Ort der Geborgenheit verwandeln, kommen wir bei uns an. Aber was braucht es für uns eigentlich, damit eine Wohnung oder ein Haus sich nach Zuhause anfühlen?
Am Anfang sind es bloß Quadratmeter zwischen Betonwänden. Doch mit dem Einzug beginnt das, was die Architektur- und Wohnpsychologie "Aneignung" nennt: Wir wählen Wandfarben aus, kaufen, bauen oder bringen Möbel mit, hängen Bilder auf (oder nicht). Wir umgeben uns mit Dingen, die wir als zu uns passend empfinden. Wir versuchen einen Raum zu schaffen, der uns und unsere Werte repräsentiert.
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Genau deshalb ist es auch so spannend zu sehen, wie andere wohnen. Manchmal betreten wir eine Wohnung und sind erstaunt über Style und einen komplexen Geschmack, fühlen uns inspiriert und mit den Bewohnern verbunden. Andersherum genauso: Eine seelenlose Schrankwand kann die eben noch da gewesene Begeisterung für ein Date mitunter schnell dämpfen. Unsere Vorstellungen von Behaglichkeit sind zum Teil bereits in der Kindheit geprägt. Wir fühlen uns in Räumen wohl, die an Geborgenheit von einst erinnern. Oft sind es kleine Details: Stoffmuster, Küchengeräte, Pflanzen, Geschirr und Farben von damals, die wir mit einer gewissen Zärtlichkeit in unser erwachsenes Wohnen integrieren. Manchmal übernehmen wir allerdings auch (unbewusst) elterliche Aufträge, etwa den, eine eigene Immobilie zu besitzen. Es gibt Reihenhauskäufer:innen, denen erst nach Jahren auf der eigenen Terrasse klar wird, dass sie damit vor allem die Träume der Eltern verwirklicht haben – und selbst nie wirklich im Vorort heimisch geworden sind.
Unsere Wohnungen sind quasi dreidimensionale Autobiografien
Gut fühlt es sich an, wenn der Ort, den wir bewohnen, mit unserer inneren Verfasstheit harmoniert, wir uns in dem, was uns umgibt, wiederfinden können. Eine Freundin liebt ihre umfangreiche Vasensammlung aus Bisquitporzellan, für eine andere gehört zum Wohnglück dazu, all ihre Bücher im Blick haben zu können. Mit kleinen Kinder zählt der gemeinsame, mit Teenies der abgeschlossene Raum. Auf gewisse Weise sind unsere Wohnungen und Häuser dreidimensionale Autobiografien zum Anfassen und Durchschreiten. Sie erzählen, woher wir kommen und wohin wir auf dem Weg sind. Die US-amerikanische Architekturpsychologin Claire Cooper-Marcus hat für ihr Buch "House as a Mirrow of Self" (Nicolas-Hays Inc.) Menschen zu Zwiegesprächen mit den Räumen, in denen sie leben, eingeladen – und Chaos, Lieblosigkeit, Friede oder Energie darin offenbaren mitunter, wie die Bewohner:innen sich selbst sehen.
Aber so intim unser Verhältnis zu unserer Wohnung auch ist: Wohnzufriedenheit lebt auch stark vom Vergleich. Unsere vier Wände sollen auch unseren sozialen Status repräsentieren. Auf diese Weise können wir uns der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe vergewissern, deren Wohnnormen wir intuitiv verinnerlicht haben. Mit 22 Jahren sind WG-Zimmer oder Mikroapartment perfekt. Schon ein Jahrzehnt später fühlt es sich vielleicht wie Scheitern an (oder produziert Energie für politischen Protest), weil die, mit denen wir auf Augenhöhe sein möchten, andere Wohnformen gefunden haben. "Mit 42 wieder in einer WG zu wohnen, kam mir komisch vor, wie ein Fehler im System", schreibt etwa der Berliner Autor Jan Brandt ("Ein Haus auf dem Land. Eine Wohnung in der Stadt", Dumont), der wegen einer Eigenbedarfsklage seine Wohnung verlor.
Wie Wohnen sich verändert
Wohnen ist immer auch ein Versuch, mit den Kräften, die auf uns wirken, umzugehen. Wir reagieren mit der Gestaltung unserer Wohnung (auch) auf die Widrigkeiten der Welt. Im Netz hat sich unter #cottagecore (auch #grandmacore oder #farmcore) eine Bewegung entwickelt, die die Ursprünglichkeit des Landlebens feiert. Da werden Brotteige geknetet, Schalen getöpfert, Schafe gefüttert und Farmhäuser restauriert. Die Rückkehr des Laura-Ashley-Kragens, die "Meine kleine Farm"-Attitüde mag mitunter überkandidelt erscheinen. Tatsächlich existiert die Hinwendung zum Landleben nicht nur als ästhetisches Internet-Phänomen. Seit einigen Jahren entwickelt sich in ganz Europa eine konkrete Idee der "urbanen Dörfer". Die Initiative Neuland 21 etwa untersucht, entwirft und probiert Perspektiven aus fürs Landleben im 21. Jahrhundert: kommunikative Architektur, Co-Working-Space, Partizipation, ortsflexibles Arbeiten zwischen Wäldern und Äckern – natürlich leistungsfähiges Internet inklusive. Das Bedürfnis nach der "eigenen Scholle", nach Natur und etwas
Überschaubarem, zeigt sich auch im Run auf Schrebergärten.
Einst als spießig verschrien hat die Corona-Pandemie einen echten Gartenhype ausgelöst. Und eine Freundin, die in Ohlstedt wohnt (für alle Nicht-Hamburger:innen: ein sehr grüner Stadtteil am äußersten Rande der Stadt) bemerkt fast jedes Wochenende sehnsüchtige "Immobilien-Pilger", die auf der Suche nach miet- oder kaufbaren Einfamilienhäusern mit großen Gärten durch die stillen Straßen und breiten Alleen wandern. Das aktuelle Gutachten der Immobilien-Weisen für den Zentralen Immobilien Ausschuss bestätigt ihre Beobachtung: "Die Speckgürtel der Metropolen und ländliche Räume, die gut an den ÖPNV angebunden sind, sind die Corona-Gewinner", sagt Carolin Wandzik, Expertin für den Immobilienmarkt. Die Gründe? Oft vermutlich Pragmatismus ("Ich arbeite eh zu Hause. Warum dann nicht im Grünen?"). Bei manchen mögen diffuse Zukunftsängste eine Rolle spielen ("Ich baue Kartoffeln an und ernte eigene Äpfel").
Zuhause muss sich immer auch an unsere Bedürfnisse anpassen
Tatsächlich beeinflusst auch die Funktionalität unseres Wohnraums in hohem Maß, ob wir ihn als behaglich, sicher und unterstützend empfinden. Homeoffice, Digitalisierung und Familienformen abseits vom klassischen Vater-Mutter-Kind-Modell, von Patchwork bis Polyamorie, könnten unsere Wünsche an Design und Wohnungsschnitt sehr verändern. Das klassische Bücherregal ist für manche längst Vergangenheit, schwere Möbel mit Mono-Funktion? Schwierig! "Es gibt eine enorme Nachfrage nach flexiblen Lösungen für Räume und Möbel", sagt Marc Wohlers von den Hamburger Gruppenwerk Design Manufakturen. Sein Büro hat mit "Verpackung" ein Möbelstück konzipiert, das für unterschiedliche Lebensphasen, Orte und Nutzungen funktioniert. Er sagt: "Es kann Couch- oder Besprechungstisch, Sitzgelegenheit und zugleich Stauraum sein. Durch sein zurückhaltendes Design passt es sich chamäleonhaft fast an jedes Interior an." Innovativ sind auch die Arbeiten der Berliner Architektin Johanna Meyer-Grohbrügge, die Räumen Multifunktionalität verleiht, indem sie zeitversetzt geteilt werden. So wird der Blumenladen bei ihr am Abend zum Restaurant.
Steckt vielleicht auch in unserem Wohnzimmer ein Verwandlungskünstler? Kann mein Flur mehr als nur Flur? Unser Zuhause ist (meist) der Ort, der unsere Erinnerungen, Geheimnisse und Lebensgeschichte bewahrt. Und genau, wie die sich stetig verändern, gibt es vielleicht auch die Chance, dass sich unsere Idee vom Wohnen und unser Zuhause verändert.
Dieser Text erschien zuerst in EMOTION 01/21.
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