Amerikanische Jobforscher nennen es "The Great Disengagement", den großen Rückzug. Menschen fühlen sich nicht mehr mit ihrem Arbeitsplatz verbunden, und mit dem inneren Rückzug beginnt die Einsatzbereitschaft zu bröckeln. LinkedIn hat vor kurzem die Stimmungslage an deutschen Arbeitsplätzen gemessen. Ein Gespräch mit Julia Christoph, Wirtschaftspsychologin und Kommunikationsexpertin bei LinkedIn DACH.
EMOTION: Wie geht es den Arbeitnehmenden in Deutschland gerade?
Infolge der Pandemie bewerten Beschäftigte ihre Prioritäten und ihr Verhältnis zu ihrer Arbeit neu. Das erkennen wir auch sehr gut an den Lebensläufen und dem Jobsuchverhalten unserer Mitglieder: Sie wünschen sich flexiblere Arbeitsmodelle und eine bessere Work-Life-Balance, erwarten, dass Unternehmen ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden schätzen und erwägen durchaus, den Arbeitsplatz zu wechseln, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden. Zugleich hat eine Studie, die wir kürzlich zu dem Thema durchgeführt haben, leider gezeigt, dass die Pandemie das Selbstvertrauen von einem Drittel (31 Prozent) der deutschen Berufstätigen deutlich untergraben hat. Isolation, mehr Arbeitsbelastung, gesteigerter Druck und weniger direkte Unterstützung von Kolleg:innen und Vorgesetzten zollen vermutlich ihren Tribut und führen offenbar zu einem verminderten Selbstbewusstsein. Gerade Frauen haben Schwierigkeiten, selbstsicher durch die Arbeitswelt zu gehen: 42 Prozent der weiblichen Berufstätigen glauben, sie seien nicht gut genug für ihren Job – während nur 36 Prozent der Männer so über sich denken.
Warum betrifft dieser Vertrauensverlust in sich selbst Frauen noch stärker als Männer?
Frauen hinterfragen ihre Fähigkeiten eher als Männer und tun ihre Erfolge öfter als Zufall ab. Sie sind also insgesamt vom sogenannten Impostor- oder auch Hochstapler-Syndrom stärker betroffen als Männer. Warum das so ist, können wir nur vermuten. Leider wissen wir ja, dass unsere heutige Arbeitswelt – ganz pauschal gesagt – für Frauen weniger gut funktioniert als für Männer. Noch immer übernehmen Frauen mehr Care-Arbeit, zum Beispiel bei der Kinderbetreuung, und arbeiten häufiger in Teilzeit. Wir brauchen also ein System, das für beide Geschlechter gleich gut funktioniert. Das heißt vor allem: Wir brauchen in Zukunft mehr Flexibilität in der Arbeitswelt. Und diese muss von allen gleichermaßen genutzt werden. Doch unsere Analysen legen nahe, dass nach der Pandemie tendenziell die Männer wieder verstärkt ins Büro gehen und Frauen weiter häufig zu Hause bleiben, um von dort aus zu arbeiten. Das birgt die Gefahr, dass sich die Problematik der unterschiedlichen Selbsteinschätzung von Frauen und Männern zukünftig sogar noch weiter verschärft.
Warum zweifeln Menschen nach zwei Jahren in der Pandemie an ihren Fähigkeiten? Sie haben doch enorm viel geleistet…
Auch hier spiegeln sich vermutlich der mangelnde Austausch mit den Kolleg:innen sowie eine vernachlässigte Feedback-Kultur wider. Viele erkennen ihren eigenen Erfolg nicht, obwohl sie in den vergangenen zwei Jahren enorm viel geleistet haben. Dabei zeigt sich ein großes Generationengefälle: Berufseinsteiger:innen zwischen 16 und 24 Jahren stellen ihre Fähigkeiten am Arbeitsplatz heute deutlich häufiger in Frage (47 Prozent) als noch vor der Pandemie. Zum Vergleich: Nur 17 Prozent der über 55-jährigen Berufstätigen stimmen dem ebenfalls zu. Gerade wenn wir nicht alle gemeinsam im Büro arbeiten, sollten wir uns angewöhnen, Feedback und Lob ganz klar zu artikulieren, um sicherzustellen, dass es auch gehört wird. Gleichzeitig ist es wichtig, Komplimente anzunehmen und nicht zu hinterfragen – selbst, wenn man seiner eigenen Leistung kritisch gegenübersteht. Denn in der Regel sind sie ernst gemeint und geben einen wertvollen Schub für mehr Selbstvertrauen.
Wir haben es offenbar in der Breite nicht geschafft, an Stelle der zufälligen freudestiftenden Begegnung am Kaffeeautomaten digitale Verbindungen zu setzen, dabei verbringen wir ja alle viel Zeit mit digitaler Kommunikation. Was fehlt?
Unsere Arbeitswelt befindet sich momentan in einem enormen Umbruch. Wir bei LinkedIn nennen das "The Great Reshuffle". Vieles funktioniert schon heute nicht mehr so wie noch vor zwei Jahren – zum Beispiel der informelle Austausch. Unternehmen müssen deshalb ihre Kultur neu denken und ihre Mitarbeitenden in den Mittelpunkt stellen. Das geistige, körperliche und emotionale Wohl ihrer Beschäftigten nimmt hierbei einen zentralen Stellenwert ein. Eine gesunde Unternehmenskultur beruht auf Fürsorge und Mitgefühl für die Mitarbeitenden. Natürlich können digitale Tools und Meetings die einst gewohnten und von vielen vermissten zwischenmenschlichen Begegnungen nicht vollkommen ersetzen. Doch richtig eingesetzt und kombiniert, lässt sich auch im digitalen Raum viel erreichen. Hier die passenden Tools und Methoden zu finden ist für Unternehmen elementar wichtig. Denn wenn wir uns nicht mehr täglich im Büro sehen, müssen wir andere Wege einschlagen, um mitzubekommen, wenn es den Kolleg:innen nicht gut geht oder wenn jemand an seine Grenzen kommt.
Was vermissen die Menschen gerade am stärksten?
Im Homeoffice verlieren offenbar viele den wirklich engen Kontakt zu Kolleg:innen und Vorgesetzten und haben bisweilen das Gefühl, ihren Aufgaben nicht mehr gewachsen zu sein. Vor allem jüngere Arbeitnehmer:innen haben zudem Angst, übersehen zu werden, wenn sie von zu Hause aus arbeiten: 50 Prozent der Befragten im Alter von 16 bis 24 Jahren befürchten, dass sich das Home Office negativ auf ihre Karriere auswirken könnte. Daher ist es in der aktuellen Lage besonders wichtig, regelmäßig Feedback zu geben und auch einzufordern, sowohl von Vorgesetzten- als auch Angestelltenseite. Denn gerade durch das Arbeiten fernab des Büros bleibt die Feedback-Kultur aktuell leider häufig auf der Strecke. Durch Gespräche mit Vorgesetzten und Kolleg:innen kann jeder von uns dem gezielt entgegenwirken.
Und was ist Ihre Empfehlung, um die Entfremdung zu stoppen?
Hier gilt: hinschauen, aktiv einbeziehen, nachfragen, empathisch sein! Außerdem sollten Menschen in Führung Vorbild sein, was flexibles Arbeiten anbelangt. So ist es beispielsweise sinnvoll, dass sie selbst nicht fünf Tage die Woche im Büro sind, um so der "Proximity Bias", also der gefühlten Bevorzugung von Mitarbeitenden vor Ort, vorzubeugen. Führungskräfte müssen außerdem das Problem der Entfremdung in Gesprächen mit ihren Mitarbeitenden und durch Feedback gezielt adressieren. So können sie verhindern, dass das Coronavirus Langzeitfolgen für das Selbstbewusstsein der Angestellten nach sich zieht. Unternehmen sollten ihre Führungskräfte unbedingt darin schulen, ihre Teams emotional zu unterstützen und dabei auch seelische Belastungen sowie Krankheiten frühzeitig zu erkennen. Auch regelmäßige Check-ins mit dem Team können helfen, Burnouts vorzubeugen, denn sie stärken den Zusammenhalt und das Zugehörigkeitsgefühl.
Dieses Interview erschien zuerst im Working Women Newsletter. Jetzt kostenlos anmelden und keine News rund ums Jobtrends, New Work und Gründung verpassen!