Wer im Chaos versinkt, kann sich kaum vorstellen, ihm je wieder zu entkommen. Dabei entsteht genau dann die Möglichkeit, Dinge ganz neu zu sortieren, findet unsere Autorin.
Okay, ich bin chaotisch. Natürlich nicht immer, aber ich erinnere mich etwa daran, wie ich einmal die letzte Bahn verpasste (weil der Abend sehr schön und sehr schwierig gewesen war), um dann morgens, in der Kleidung vom Vortag, völlig übermüdet vor einem Kaffeeautomaten in der Uni zu landen. Dort führte ich ein Gespräch mit einer Kommilitonin, die mir erzählte, sie plane gerade ihre Hochzeit, die in drei Jahren stattfinden solle. Sie hatte bereits die Location ausgewählt und eine Gästeliste gemacht. Ich schaute sie aus tief liegenden Augen an und versuchte angestrengt zuzuhören, während ich zeitgleich realisierte, dass ich kein Geld mehr auf meiner Mensakarte hatte. Ich konnte mir also keinen Kaffee kaufen und kam trotzdem zu spät in meine Vorlesung.
Eine alte Ordnung umwerfen, um sich neu zu sortieren
So etwas passiert mir nicht ständig. Ereignisse dieser Art häufen sich eher in ganz bestimmten Lebensphasen. Wenige Wochen nach dieser Begegnung brach ich mein Studium ab. Ich meldete mich nicht zurück, verpasste Klausuren und tauchte nicht mehr in Vorlesungen auf – das Chaos schien mich zu überrollen. Zeitgleich trennte ich mich von dem Mann, mit dem ich so viele schöne und schwierige Abende verbracht hatte. Dann kündigte ich mein WG-Zimmer. Ich schien in einen Sog geraten zu sein, der mich aller Strukturen beraubte. Selbst rückblickend lässt sich gar nicht so leicht erklären, warum. Was ich tat, fanden Außenstehende dumm. Ich schmiss alles hin und begann ein Philosophiestudium. Ich musste mir Witze übers Taxifahren anhören. Doch mein Leben wurde einfach nur schöner.
Die neue Stadt war mir freundlich gesinnt. Ich studierte gerne, lernte tolle Menschen kennen. Was also war geschehen? Vielleicht muss man gelegentlich eine alte Ordnung umwerfen, um sich völlig neu zu sortieren. Bei einem Umzug ist es ganz ähnlich. Man begibt sich in Unordnung und findet darin alte und nutzlose Dinge, von deren Existenz man nichts mehr wusste. Man sortiert sie aus, packt alles Übrige in Kartons, die in die neue Wohnung wandern. Und plötzlich ist sie da, die Chance, alles nach anderen Mustern zu ordnen! Könnte es im Leben nicht auch so sein? Hatte ich die Unordnung insgeheim gesucht? Jenes Chaos, das wir in unser Leben lassen, kommt es vielleicht zur rechten Zeit? Rufen wir es? Manchmal wünsche ich es leise herbei. Am Wochenende etwa, wenn ich mit Freund:innen in die Nacht ziehe. Vielleicht werde ich von einer schönen Begegnung überrascht und vergesse die Zeit. Irgendwann im Morgengrauen laufe ich nach Hause. Die Vögel beginnen zu zwitschern und neben der Müdigkeit und den vom Tanzen schweren Beinen fühle ich auch das: Freiheit und Erleichterung. Die Ordnung von dem, was wichtig und unwichtig ist, gerät ins Wanken. Sie findet ein neues Gleichgewicht.
Chaos kann dabei helfen, innerlich aufzuräumen
Der Philosoph Aristoteles beschrieb ein ähnliches Phänomen schon vor über 2000 Jahren und nannte es „Katharsis“. Eine Bühnentragödie, aber auch das ausgelassene Feiern können eine reinigende Wirkung haben. Gelegentlich ins nächtliche Chaos abzutauchen, hilft also dabei, sich innerlich aufzuräumen. Es befreit von negativen Affekten und wappnet für kommende Herausforderungen. Manchmal wird das Leben auch gerade dann chaotisch, wenn wir bestimmte Dinge nicht mehr wirklich wollen oder sie uns nicht guttun. Kurz bevor ich mein Studium abbrach, studierte ich halbherzig und war in einer Beziehung, an der ich zwar festhielt, die mich jedoch überforderte. Ich hätte alles so weiterlaufen lassen, hätte das Chaos mich nicht gezwungen, mich mit meinem Leben auseinanderzusetzen. Dass ich ständig Vorlesungen verpasste, war kein Zufall, sondern ein Zeichen, dass das Studium keine Priorität in meinem Leben hatte. Das hätte mir natürlich eigentlich bewusst sein müssen.
Vielleicht fehlte mir lediglich der Mut, alles gleichzeitig hinzuschmeißen. Also ließ ich das Chaos herein. Das Chaos ist gnadenlos ehrlich. Und nicht selten ist es auch der Zustand vor dem Neubeginn. Erinnern wir uns daran, wenn wir eines Tages wieder in ihm zu versinken glauben.
Dieser Text erschien zuerst in EMOTION 11/22. Lena Frings hat gerade ihr erstes Buch veröffentlicht: "Talmäander", das in der Reihe "European Essays on Nature and Landscape" erschienen ist und in dem sie über ihre Heimat, das Ahrtal, schreibt.
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