Es lohnt sich, Dinge, die uns blockieren, mal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. So ein gezieltes Umdeuten zeigt oft Problemlösungen auf, hilft dabei, bessere Beziehungen zu führen – und lässt sich sogar leicht trainieren.
Das Leben ist schön. Und oft auch ganz schön kompliziert. Da ist zum Beispiel die Kollegin, die an diesem Morgen grußlos in ihrem Büro verschwindet. Der erste Gedanke: Habe ich etwas falsch gemacht? Oder: Wie ist die denn heute drauf! Schon ist man mittendrin im Stress. Dabei könnte man auch durchatmen und noch mal neu überlegen: Hat sie Ärger mit einem Kunden? Oder vielleicht Kopfweh? Wenn man ihr Verhalten so betrachtet, sieht die Sache schon wieder anders aus.
Mit ein bisschen Übung kann jede:r Dinge reframen
In der systemischen Familientherapie heißt das "Reframing", was so viel bedeutet wie einer Sache einen neuen Rahmen zu geben. Umdeuten kann jede:r, überall und immer. Dazu braucht es keine Therapie, nur etwas Übung und die Bereitschaft dazu. Dann hilft uns Reframing auch im Alltag, günstigere Entscheidungen zu treffen, bessere Beziehungen zu führen und uns wohler zu fühlen. Das Grundprinzip ist einfach: Ich trete gedanklich einen Schritt zurück und blicke noch einmal neu auf das Geschehen.
Wie könnte ich die Sache noch sehen? Oder: Wozu könnte es vielleicht auch gut sein, dass es so gekommen ist? Die Psychologen Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer vergleichen diese Strategie mit dem märchenhaften Prinzip "Stroh zu Gold spinnen". Durch den anderen Blick und die neue Bewertung wird aus etwas Schwierigem etwas Einfacheres, aus etwas Verstricktem etwas Konstruktives, aus Tragischem oft sogar Komisches. Und: Beim Reframing entsteht ein vollständigeres Bild. Nehmen wir zum Beispiel mal das allwöchentliche Hickhack mit dem Lieblingsmenschen ums Staubsaugen. Geht’s hier nur um Krümel unterm Sofa? Oder wozu könnte das Gemotze noch gut sein? Bei genauerer Betrachtung könnte sich etwa herausstellen, dass dieser Konflikt dabei hilft, wohltuenden Abstand zueinander zu gewinnen. Seltsame Strategie, ohne Frage. Aber womöglich hat man in seiner Herkunftsfamilie nicht gelernt, wie man sich in einer Beziehung anders und besser als mit Streit abgrenzt.
Innehalten schafft Raum zwischen Reiz und Reaktion
Solch ein umfassender Perspektivwechsel ist schon die hohe Kunst – meist gelingt er dann doch nur mit therapeutischer Hilfe. Im Alltag bringt es aber bereits sehr viel, einfach den ersten Gedanken, der uns durch den Kopf schießt, noch einmal kurz infrage zu stellen. Ist es wirklich so? Oder doch anders? Dieses Innehalten zur Selbstbefragung schafft Raum zwischen Reiz und Reaktion. Es verhindert, dass wir umgehend über jedes Stöckchen springen, das uns das Leben hinhält. Stattdessen können wir Situationen besser zum Lernen, Verstehen oder für mehr Zufriedenheit nutzen. Das funktioniert auch im Kleinen. Statt sich darüber zu ärgern, dass in der Arztpraxis noch drei Leute vor uns dran sind, könnten wir uns auch dazu beglückwünschen, dass wir die letzten 15 Minuten des Podcasts ungestört zu Ende hören können. Super!
Aber Vorsicht...
Oder ist Reframing im Grunde doch nur ein anderes Wort für Selbstbeschiss und Schönreden? Tatsächlich kann das Umdeuten eine Gratwanderung sein. Das Leben mit einem aggressiven Partner als "aufregend" zu deuten, ist nicht günstig, sondern eher naiv oder co--
abhängig. Hilfreiches Reframing wäre hier vielmehr, nach der Trennung keine Schuldgefühle zu entwickeln, sondern sich darauf zu besinnen, im rechten Moment handlungsfähig gewesen zu sein. Reframingtechniken zielen also nicht darauf ab, Fakten zu verfälschen oder bestimmte Ereignisse auszublenden oder zu verleugnen. Tatsachen bleiben Tatsachen. Aber wir haben stets die Möglichkeit, sie in einen für uns konstruktiveren Rahmen zu stellen. Nach einem vermasselten Bewerbungsgespräch kann ich mir beispielsweise sagen: "Das war nicht meine beste Leistung." Das ist der Fakt. Eine Umdeutung könnte lauten: "Und diese Erfahrung wird mir helfen, mich nächstes Mal geschickter vorzubereiten." Es so zu sehen, ist mehr als ein Feelgood-Manöver.
Wo es wehtut, also besonders hilfreich wäre, tut Reframing weh
"Die Art, wie wir über ein Problem sprechen, bestimmt die Qualität eines Problems, ja, ob es überhaupt ein Problem ist oder nicht", erklären von Schlippe und Schweitzer in ihrem Werk "Systemische Interventionen" die Wirkung von Reframing. Wer ein gescheitertes Vorstellungsgespräch als Learning betrachtet, wird bei der nächsten Gelegenheit anders auftreten als jemand, der es als erneuten Beweis eigener Unfähigkeit einordnet. "Im Reframing löst man sich aus der Faszination am Defizit und richtet den Blick auf Chancen und Möglichkeiten", sagen die Psychologen.
Wer es sich zur Gewohnheit macht, Erlebtes zu hinterfragen, bringt es bald nicht mehr fertig, mit dem Brustton der Überzeugung zu sagen: "So ist es. Und nicht anders!" Wir werden automatisch differenzierter in unseren Bewertungen, flexibler und facettenreicher in unseren Reaktionen und Handlungen. Allerdings: Wo es wehtut, fällt Reframing oft sehr schwer (obwohl es dann besonders hilfreich wäre). Dort neigen wir zu Schwarz-Weiß-Denken, um erneute Verletzungen zu vermeiden. Eine Trennung ist dann ausschließlich ein großes Leid, eine Kündigung ein einziger Verlust. Der Schmerz verstellt den Blick. Typisch für diesen Zustand sind Worte wie "nie", "nur" und "immer". Eine Kollegin ist im Job zum Beispiel gut darin, die Dinge von allen Seiten zu beleuchten – nicht aber, wenn sie von ihrem Ex-Mann erzählt. Wenn er der gemeinsamen Tochter teure Sneaker spendiert, gibt es für sie nur eine Interpretation: Er torpediert absichtlich ihre Erziehung und verzieht die Tochter.
So gut Reframing der Seele tut, es hat auch Kosten
Wer sich der Idee öffnet, dass ein Glas je nach eigener Betrachtungsweise halb voll oder halb leer sein kann, verzichtet von da an auf absolute Gewissheit. Möglicherweise nimmt man auch Abschied von einer vertrauten Opferrolle und lässt einen anderen Menschen für immer
vom Haken der Täterschaft. Wer etwa zur Einsicht gelangt, dass eine Trennung zwar wahnsinnig traurig war, sich dadurch aber auch neue Möglichkeiten im Leben ergeben haben, kann dem/der Ex kaum länger Vorwürfe für schlechte Gefühle im Hier und Heute machen.
Kurz: Wer umdeutet, übernimmt Verantwortung für das eigene Leben, für die eigenen Gefühle und Gedanken. Das erfordert manchmal Mut. Ja, der andere hat sich schäbig verhalten – und ich bin durch die schwierige Erfahrung gereift. Ja, ich hatte andere Pläne – und das, was stattdessen kam, war toll. Wir haben die Wahl, wie wir etwas einordnen, welchen Aspekt eines Problems wir beleuchten, was wir vorbeiziehen lassen. Reframing sei im Grunde weniger eine Technik, sondern eher eine Haltung dem Leben gegenüber, sagen von Schlippe und Schweitzer. Es ist die Bereitschaft, die eigene Sicht zu hinterfragen. Und das Bewusstsein, dass wir unsere Storys zum guten Teil selbst kreieren. Diese Einsicht macht das Leben nicht weniger kompliziert, aber den Umgang damit leichter.
So kann Reframing gehen: Eine Nervsituation, drei neue Rahmen
Der Kollege nervt alle mit seiner pedantischen Art.
- Bedeutungsreframing: "So anstrengend er oft ist, er hat das Team schon vor manchem Fehler bewahrt."
- Kontextreframing: "Er lässt auch in der Chefetage nicht locker, davon profitieren wir alle."
- Inhaltsreframing: "Irre, dass er nun Fotos vom Geschirrspüler macht. Aber er will sie an die Personalabteilung schicken, damit wir endlich ein neues Gerät bekommen."
Dieser Text erschien zuerst in EMOTION 12/21.
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