"Toll, wie du dein Leben im Rollstuhl meisterst!" Das hört Luisa L'Audace ständig. Fake-Respekt, der ihr nicht hilft. Cool wäre dagegen: eine Welt ohne Diskriminierung. Hier schreibt sie über ihre Erfahrungen.
Ich bin ein Mensch – nicht meine Behinderung
"Wenn ich deine Probleme sehe, wirken meine dagegen so klein. Da kann ich mich ja glücklich schätzen!", sagt mein Gegenüber fast erleichtert zu mir – einer behinderten Frau, die auf den Rollstuhl angewiesen ist und einen Stock zum Gehen braucht. Von meinen Problemen habe ich ihm aber gar nichts erzählt. Dafür fehlte die Zeit und: Wer erzählt schon einer nahezu fremden Person von persönlichen Problemen?
Das ist auch nicht nötig, damit die meisten Menschen, die mir begegnen, automatisch davon ausgehen, sie wüssten, welche Probleme ich habe. Und das ganz allein aufgrund eines einzigen Merkmals: meiner Behinderung. Meine Behinderung, die in den Köpfen der Gesellschaft so viel Raum einzunehmen scheint, dass dort kein Platz mehr für irgendetwas anderes von mir ist. Kein Platz mehr für mich als Mensch mit allen Facetten, Wünschen und ja, auch Problemen. Aber nicht die, die mein Gegenüber vermutet, was ironisch ist, denn während ich meine Behinderung niemals als das Problem deklarieren würde, stellt genau diese Annahme meiner Mitmenschen ein sehr großes Problem für mich dar. Würde ich mich für eine Straßenumfrage zur Verfügung stellen und man würde die Leute fragen, was wohl mein größter Wunsch sei, dann würden vermutlich die wenigsten lang zögern und so etwas sagen, wie: "Laufen zu können, natürlich!"
Nicht die Behinderung ist das Problem, sondern die Umstände
Es ist erstaunlich, dass mir die wenigsten widersprechen würden, wenn ich fälschlicherweise sagen würde, meine Behinderung sei die Ursache für meine Sorgen und Probleme, während ich nicht selten auf lauten Protest stoße, sobald ich die tatsächlichen Übeltäter benenne: fehlende Möglichkeiten zur Teilhabe, Barrieren, Diskriminierung und Unterdrückung. Kurz gesagt: Ableismus, die strukturelle Diskriminierung behinderter und chronisch kranker Menschen. Zu Ableismus gehört auch die Annahme, dass Behinderung etwas Negatives ist, von dem automatisch Leid ausgeht.
Während der Aufschrei heutzutage groß wäre, würde ein Mann zu einer Frau sagen, dass sie doch zugeben müsse, dass es besser sei, ein Mann zu sein, gelten für behinderte Menschen noch immer andere Regeln. "Wenn du die Wahl hättest, wärst du doch auch lieber nicht-behindert!", heißt es dann mit einer Selbstverständlichkeit in der Stimme, die die eigentliche Message dieser Aussage nur noch mehr unterstreicht: "Du bist falsch, so wie du bist. Damit kannst du unmöglich zufrieden sein. Du solltest dir wünschen, anders zu sein. Sei gefälligst wehmütig und traurig und bestätige mich in meiner Annahme, dass du leidest."
Wieso wird uns nichts zugetraut?
Trage ich hingegen Make-up, habe Spaß an Mode, lache ausgelassen, kann ich entweder "gar nicht so behindert" sein und übertreibe, oder ich bin eben eine Inspiration, weil ich in meiner vermeintlich schrecklichen Lage dennoch Lebensfreude empfinde. Und so erhalte ich ebenfalls ständig Lob für alltägliche Dinge. Lob dafür, dass ich noch lachen kann. Lob dafür, dass ich "trotz meines Zustandes" einen Mann gefunden habe. Lob dafür, dass ich mich "so" zeige. Lob, das in Wahrheit kein Lob ist, sondern nur der Ausdruck von Ableismus. Denn statt zu hinterfragen, ob es sich nicht einfach um ein Vorurteil handelt, dessentwegen man behinderten Menschen nichts zutraut, wird davon ausgegangen, dass es sich dabei um eine ganz außergewöhnliche Leistung handeln müsse. "Es ist so inspirierend, dass du das trotzdem machst" – das bekommen jeden Tag sicherlich tausende behinderte Menschen zu hören, während sie nur irritiert mit den Schultern zucken und sich wundern, was am Erledigen des Wocheneinkaufs so inspirierend sein soll und wie eine nicht-behinderte Person, die nicht auf Barrieren stößt, irgendetwas davon auf ihr eigenes Leben übertragen sollte.
Das Problem des "Inspirationporn"
Dieses Phänomen nennt sich "Inspirationporn". Die mittlerweile verstorbene Aktivistin Stella Young hat den Begriff geprägt, um einen Teil von Ableismus zu beschreiben, der uns gerade in den Medien oft begegnet, schließlich vergeht kaum ein Tag, an dem keine "rührende Schicksalsstory" einer behinderten Person zu lesen, zu hören oder zu sehen ist, die beweisen soll, dass alles möglich sei, wenn man nur will. Intime Diagnosen werden bis ins kleinste Detail analysiert und vom "Kampf zurück ins Leben" oder "raus aus dem Rollstuhl" ist die Rede.
Die ständig wiederkehrende Message: Behindert zu sein ist schlecht, behinderte Menschen leiden, aber ihre Existenz kann nicht-behinderte Menschen immerhin motivieren und inspirieren. Das ist fast die einzige Rolle, die behinderten Menschen in den Medien zugestanden wird. Das Leben nicht-behinderter Menschen wird aufgewertet, indem man mit Vorurteilen das einer behinderten Person abwertet. Unsere tatsächlichen Lebensrealitäten bleiben unterrepräsentiert, unsere Probleme weitgehend unausgesprochen und der Ableismus weiterhin unentdeckt – und wir dürfen uns zum tausendsten Mal anhören: Das sei doch alles gar nicht böse gemeint.
Dieser Artikel erschien erstmals in EMOTION 1/23.
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