Aus der Union kommt heftiger Widerstand gegen die Forderung der Familienministerin der Grünen. Aber was genau besagt der vieldiskutierte Paragraf eigentlich – und welche Argumente von Expertinnen sprechen dafür, ihn tatsächlich aus dem Strafgesetzbuch zu streichen?
Im Jahr 2021 brachen laut dem Statistischen Bundesamt rund 94 600 Frauen eine Schwangerschaft ab. Diese Zahl markiert den bisherigen Tiefstand an Abtreibungen seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1996. Die Zahlen für 2022 wurden noch nicht veröffentlicht, werden aber aller Voraussicht nach höher sein – denn in drei Quartalen wurden bereits mehr Abbrüche verzeichnet als im jeweiligen Vorjahresquartal.
Die knapp 94 000 Frauen, die sich im vorletzten Jahr für eine Abtreibung entschieden, haben sich damit strafbar gemacht. In Deutschland sind Schwangerschaftsabbrüche nämlich nach wie vor nicht legal. Das besagt der Paragraf 218 des Strafgesetzbuches. Unter gewissen Voraussetzungen werden Frauen, die abtreiben, demnach aber nicht bestraft – etwa, wenn die Schwangere eine verpflichtende Beratung in Anspruch nimmt und die Abtreibung vor der 12. Schwangerschaftswoche durchgeführt wird.
Die grüne Familienministerin Lisa Paus will, dass sich das ändert. Sie fordert, dass der Paragraf gestrichen wird und Schwangerschaftsabbrüche somit vollständig entkriminalisiert werden. Das sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe kürzlich in einem Interview.
§219a wurde bereits abgeschafft – für Paus ist das nicht genug
Paus gilt schon lange als Verfechterin von Abtreibungsreformen. Im Juni letzten Jahres wurde bereits Paragraf 219a, der das sogenannte Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche regelte, vom Bundestag mit einer breiten Mehrheit gestrichen. Seither dürfen Ärztinnen und Ärzte Schwangerschaftsabbrüche öffentlich anbieten und darüber informieren, ohne Strafverfolgung zu riskieren. Bereits kurz nachdem die Streichung von Paragraf 219a beschlossen wurde, sagte Paus dem "Tagesspiegel" in einem Interview: "Wir dürfen da nicht stehen bleiben." Sie forderte, dass weitere Schritte unternommen werden müssten, um die Versorgung von Frauen zu verbessern.
Jetzt verleiht sie dieser Forderung Nachdruck, indem sie sich dafür ausspricht, auch den vieldiskutierten Paragraf 218 zu streichen. Würde das tatsächlich passieren, würden Schwangerschaftsabbrüche in Zukunft gänzlich straffrei werden.
Es geht um reproduktive Selbstbestimmung
Paus betont, dass es ihr mit der Abschaffung des Paragrafen darum gehe, das Recht von Frauen, über ihren Körper zu entscheiden, zu stärken und verweist auf das Menschenrecht auf reproduktive Selbstbestimmung. Dazu gehört für sie eben auch die Gewährleistung von Abtreibungen. "Frauen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, dürften nicht länger stigmatisiert werden", sagt Paus.
Aus der SPD dürfte die Familienministerin Unterstützung erhalten, etwa von Juso-Chefin Jessica Rosenberg und der Bundestagsabgeordneten Cansel Kiziltepe. Beide forderten in den vergangenen Monaten wiederholt die Streichung des Paragrafen.
Scharfe Kritik hingegen kommt vor allem aus der Union. Die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Dorothee Bär (CSU), bezeichnete die Forderung beispielsweise als "Dammbruch". Bedenken gibt es auch aus der Koalition. Die rechtspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Katrin Helling-Plahr, steht der Forderung skeptisch gegenüber, aus "ethischen und verfassungsrechtlichen Gründen". Sie sieht die aktuelle Regelung als "Ergebnis einer langen gesellschaftlichen Diskussion" und als "gelungenen Kompromiss".
Was spricht laut Expertinnen dafür, Paragraf 218 abzuschaffen?
1. Die sogenannte Austragungspflicht verstößt gegen die Menschenwürde
Das sagt Ulrike Lembke, Professorin für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität Berlin, der "taz". Die Austragungspflicht wurde 1976 im Bundestag beschlossen, bis heute gibt es sie. Grund dafür ist der Schutz des menschlichen Lebens im Mutterleib. Für Lembke ist das problematisch. Der Staat mache eine Schwangere so zu einem Objekt, um seine Schutzpflicht gegenüber dem Embryo bzw. dem Fötus zu erfüllen, argumentiert sie. Die Würde, Integrität und Autonomie von Frauen, die auch in der Verfassung festgeschrieben sind, wären damit nicht vereinbar.
2. Frauen, die abtreiben, werden stigmatisiert
Ulrike Busch war bis 2018 Professorin für Familienplanung, lange gehörte sie außerdem dem Bundesvorstand von pro familia (Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V) an. Sie kritisiert, dass im Begründungskontext des Paragrafen mit einem "Notlagennarrativ" argumentiert werde. Der Tenor: Frauen, die sich entscheiden, eine Schwangerschaft abzubrechen, befänden sich grundsätzlich in einer misslichen und schwierigen Lage. Das überträgt sich laut Busch auch auf jene Betroffene, die sich grundsätzlich nicht so fühlen würden. Sie sagt: Erst die gesellschaftliche Stigmatisierung rund um Abtreibung und ihre Folgen würden schlussendlich dazu führen, dass Frauen tatsächlich in Notlagen kommen.
3. Die Stigmatisierung von Abtreibungen führt dazu, dass Behandlungsangebote abnehmen
2003 verzeichnete das Statistische Bundesamt ungefähr 2.050 Praxen und Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Ende 2020 waren es nur noch 1109 – ein Rückgang um 46 Prozent. Lembke sieht das gesellschaftliche Klima, "das von sehr radikalen Ansichten einer relativ kleinen Gruppe von Abtreibungsgegner:innen" geprägt wird, als einen der Gründe. Viele Ärztinnen und Ärzte würden sich dem nicht aussetzen wollen. Für ungewollt schwangere Frauen wird es dadurch immer schwieriger, zeitnah einen Termin für einen Schwangerschaftsabbruch zu bekommen. Würde Paragraf 218 gestrichen, hätten sie es leichter, diese medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen – davon ist Lembke überzeugt.
Wie geht es jetzt weiter?
Im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition gibt es Anhaltspunkte, die darauf schließen lassen, dass eine Abschaffung des umstrittenen Paragrafen tatsächlich möglich wäre. SPD, FDP und Grüne versprachen darin: "Wir setzen eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin ein, die Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches (...) prüfen wird."
Auf Medienanfragen hin erklärte das Bundesgesundheitsministerium nun jedoch, dass die Abstimmung über diese Kommission innerhalb der Regierung noch nicht abgeschlossen sei. Ein konkreter Zeitpunkt, wann das soweit sein wird, steht ebenfalls noch aus. Es bleibt also bei der Forderung von Paus – zumindest vorerst.
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