Flirten war mal die leichteste Übung unserer Kolumnistin. Vor dem Leben als Ehefrau und Mutter. Höchste Zeit, alte Talente wiederzuentdecken.
Ich gehe fast jeden Tag ins Fitnessstudio. Und eigentlich sollte man doch meinen, dass mein Körper dadurch so viel Fitness gespeichert hat, dass ihm konditionstechnisch gesehen ein paar faule Urlaubswochen nichts ausmachen. Aber jedes Mal stehe ich nach den Ferien auf dem Crosstrainer, keuche bereits nach fünf Minuten, als würde ich den Mount Everest ohne Sauerstoffmaske besteigen, und muss praktisch wieder von vorn anfangen.
So geht es mir mit fast allen Fertigkeiten, die ich mir im Lauf meines mittellangen Lebens angeeignet habe. Als Klavierspielerin eine wahrscheinlich Zuspätberufene, werde ich nach nur
einer Woche Klimperpause wie beim Monopoly wieder auf null geschickt. Sehr zum akustischen Vergnügen meiner Familie. Ja, sie stimmen leider, diese alten Volksweisheiten. Der frühe Vogel fängt den Wurm. Übung macht den Meister. Wer rastet, der rostet. Alles kann vertrocknen, wie eine Topfpflanze, die nicht mehr gegossen wird.
Womit wir direkt beim Thema wären. Meine Freundin und ich in der U-Bahn auf dem Weg zur Ladies Night in unserem Lieblingskino. Den Titel nenne ich nicht, weil er zu peinlich ist.
Wir sitzen einem dunkelhaarigen Mann, Mitte vierzig, gegenüber, der mich anstarrt. "Was glotzt der denn so", flüstere ich meiner Freundin zu, "ist meine Wimperntusche verschmiert?" Sie guckt den Mann an, dann mich und flüstert:"Der flirtet mit dir. Na los, lächele ihn an." Total albern, aber mir wird richtig heiß bei ihren Worten, weil mir plötzlich bewusst wird, dass ich keine Ahnung mehr habe, wie man flirtet.
Erotikmuskel reaktivieren
Das Lächeln, das ich meiner Freundin zuliebe in mein gerötetes Gesicht quäle, fühlt sich wie ein Haifischgrinsen an. Deprimierend, aber meine lange Ehe hat mein Flirt-Gen völlig ausgetrocknet und mich ganz offensichtlich zum erotischen Neutrum gemacht.
Dass ich als Ehefrau super funktioniere, blind weiß, wann mein Mann Ruhe, Essen oder Sex braucht, ist nur ein schwacher Trost. Weil mir dabei irgendwie die Prise Lockerheit und Erotik verloren gegangen ist, die ich früher hatte. Dieses leichte Funkeln, diese Beschwingtheit im Umgang mit Handwerkern, Briefträgern, Automechanikern. Verbiete ich mir das etwa aus Angst, ein Lächeln für den falschen Mann wäre schon der erste Schritt in Richtung Seitensprung? Oder ist im Lauf meiner Ehejahre mein Erotikmuskel verkümmert, weil er generell zu wenig genutzt wird? Höchste Zeit, ihn wieder zu reaktivieren.
In meiner Ehe, aber auch ein bisschen außerhalb. Flirten heißt ja nicht Fremdgehen, sondern ist ein kleines Spiel, bei dem man sich lebendig fühlt. Eine Möglichkeit, die nicht ausprobiert wird, eine kleine Bestätigung, die unser Leben schöner macht. Ich bin nicht nur Mutti und der Hol-mir-mal-ne-Flasche-Bier-Schatz, sondern gelegentlich, zum Beispiel in der U-Bahn, eine fremde Frau, die angelächelt wird.
"Schönen Tag noch", sage ich deshalb, als ich aussteige. Der Mann lächelt mich an. "Tut mir leid, dass ich Sie so angestarrt habe", sagt er, "aber Sie sehen meiner Cousine total ähnlich." Tja, so viel zu meinem vertrockneten Erotikfaktor. Den ich trotzdem wieder aufpolieren werde. Und es hätte schlimmer kommen können. Zum Beispiel, wenn ich seiner Oma ähnlich gesehen hätte.
Evelyn Holst ist Expertin für Klartext. Und fü̈r Humor (hat viel davon), Familie (hat selbst eine), Frauen (ist ja eine)