Frauen langweilen sich anders und Arme sich mehr als Reiche. Wieso die öden Momente so ungleich verteilt sind, weiß Silke Ohlmeier. Hier verrät die Soziologin aber auch, wie wir Langeweile nachhaltig überwinden können.
Frau Ohlmeier, was bedeutet es, Langeweile zu haben?
Ich orientiere mich da gerne an der Definition des Psychologen John Eastwood, der Langeweile als unbefriedigtes Bedürfnis nach einer befriedigenden Tätigkeit erklärt. Es ist ein unangenehmes Gefühl, das aber nicht mit einer bestimmten Tätigkeit oder Nicht-Tätigkeit zusammenhängt.
Verstehen wir Langeweile falsch?
Das häufigste Missverständnis ist, dass Langeweile mit Nichtstun gleichgesetzt wird. Dabei muss beispielsweise ein Sonntagnachmittag, an dem man nichts zu tun hat, nicht direkt langweilig sein, sondern kann auch entspannen. Und umgekehrt kann Langeweile auch durch Überforderung entstehen, im Englischen nennt sich das dann "busy-bored".
Dieses Phänomen müssen Sie genauer erklären.
Man hat so viel zu tun, aber in einem drin bleibt trotzdem eine chronische Langeweile, die symbolisiert, dass man unzufrieden mit seinem Leben ist. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der Langeweile mit Beschäftigung beantwortet wird. Dabei ist Langeweile eher ein Sinn- und Interessenproblem, das nicht durch einen vollen Terminkalender gelöst werden kann. Es geht um Qualität und nicht um Quantität.
Ist Langeweile ein individuelles Problem?
Nein, sie entsteht in der Gesellschaft. Sie ist ein Produkt von ungleichen gesellschaftlichen Machtverhältnissen, engen Normen und einseitiger Weltanschauung. Das Feststecken in einer chronischen Langeweile hat damit zu tun, wie viel Macht man hat, sich aus der Situation zu befreien. Wichtige Faktoren dabei sind Privilegien wie Geld und Bildung.
Was bedeutet das konkret?
Langeweile ist eng mit Klasse verbunden. Menschen, die über einen geringeren Bildungsabschluss und weniger Einkommen verfügen, sind stärker betroffen. Langeweile entsteht dann aus begrenzten Möglichkeiten, am Leben teilzuhaben und die Situation selbst bestimmen zu können. Anstatt das anzuerkennen, vermitteln wir Menschen in den unteren sozialen Klassen, sie wären selbst schuld an ihrer Langeweile. Dabei ist es viel schwieriger, sich aus chronisch langweiligen Situationen zu befreien, wenn es an Geld, Macht und Bildung fehlt.
Welche Kriterien führen noch dazu, dass bestimmten Gruppen gesellschaftliche Teilhabe schwer gemacht wird?
Auch Race spielt da eine Rolle. Nicht nur, weil Menschen, die Rassismus erfahren, in Deutschland überproportional häufig in den unteren Klassen vertreten sind. Studien haben ergeben, dass Diskriminierung auch unabhängig von der Klasse Einfluss auf den Zugang zu befriedigenden Tätigkeiten hat. Ein weiterer Punkt ist Behinderung und Krankheit, Thema Barrierefreiheit: Inwiefern wird allen Menschen gesellschaftliche Teilhabe möglich gemacht? Langeweile entsteht auch hier durch den erschwerten Zugang zu befriedigenden Tätigkeiten.
Spielt auch das Geschlecht eine Rolle?
Ja. Jahrhundertelang wurden Frauen von wichtigen beruflichen Positionen, Bildung und Teilhabe ausgeschlossen und in die häusliche Sphäre gedrängt. Ihre einzige Rolle: Hausfrau und Mutter. Die Langeweile, die viele von ihnen in dieser Rolle empfunden haben, war ein Ausdruck von Unterdrückung, und dem Gefangensein in dieser Situation. Das traditionelle Bild der Hausfrau und Vollzeit-Mutter als gute Mutter wird heute immer weiter aufgebrochen, gilt aber für viele immer noch als Ideal. In meiner Studie über Langeweile in der Elternzeit haben die gelangweilten Mütter berichtet, dass sie erwartet hatten, dass das Muttersein sie total erfüllt und glücklich macht. Als sie sich stattdessen gelangweilt haben, haben sie sich selbst die Schuld gegeben und sich gefragt, ob sie ihr Kind nicht genug lieben. Frauen tendieren dazu, sich selbst die Schuld an ihrer Langeweile zu geben, während Männer tendenziell die Situation an sich dafür verantwortlich machen.
Inwiefern hängen Langeweile und Care-Arbeit bzw. die gesellschaftliche Abwertung von Care-Arbeit zusammen?
Care-Arbeit wird einerseits als wichtig für die Gesellschaft angesehen und die Mutter, die sich ihr eine Zeit lang voll und ganz widmet, teilweise idealisiert, andererseits wird sie herabgesetzt, da man damit meist kein Geld verdient. Sich ausschließlich um den Haushalt zu kümmern, wird häufig als langweilig abgewertet. Dabei haben sich beispielsweise diejenigen Frauen in meiner Studie, die das Kümmern um den Haushalt als wichtig erachtet und sich frei dafür entschieden haben, nicht gelangweilt. Gelangweilt haben sich diejenigen, die dachten, als gute Mütter müsse man zu Hause bleiben, die gleichzeitig aber keine Anerkennung dafür bekommen haben. Weder von sich noch von anderen. Wir leben in einer arbeitszentrierten Welt, in der alle, die keine Erwerbstätigkeit ausüben, im Verdacht stehen, ein langweiliges Leben zu führen, sei es als Hausfrau bzw. Hausmann, in der Rente oder in der Arbeitslosigkeit. Das ist absurd, wenn man bedenkt, dass Erwerbsarbeit für viele Menschen eine große Quelle der Langeweile ist.
Inwieweit kann man sich aus dieser Situation befreien?
Je weniger Privilegien ich habe, desto schwieriger ist es, sich daraus zu befreien. Für geflüchtete Menschen, deren Zeit größtenteils durch das Warten auf Entscheidungen geprägt ist, ist es beispielsweise fast unmöglich, weil sie in einem sehr engen Regularium leben. Allerdings: Einengende Normen betreffen alle Menschen und Langeweile gibt es in allen Schichten. In den oberen sozialen Klassen gibt es aber mehr Spielraum. Wenn ich aus Statusgründen in einem für mich langweiligen Job bleibe, kann ich Erfolgsnormen hinterfragen und mich mit genügend finanziellen Ressourcen umorientieren. Habe ich kein Geld und kann während der Umorientierung meine Miete nicht mehr zahlen, geht das nicht.
Woran liegt es, dass Arbeit glorifiziert und Langeweile verteufelt wird? Sollte viel Freizeit nicht als Privileg gelten?
Auf der einen Seite ist Freizeit ein Privileg. Mit Geld kann ich mir beispielsweise Zeit kaufen, indem ich eine Putzhilfe anstelle. Auf der anderen Seite symbolisiert permanente Beschäftigung, dass man wichtig ist und gebraucht wird. Viel zu arbeiten symbolisiert eine hohe Leistungsfähigkeit. Menschen, die sich langweilen, sind dann schnell dem Vorwurf der Faulheit ausgesetzt – jedenfalls, wenn man davon ausgeht, dass Langeweile ausschließlich durch Nichtstun entsteht.
Aber kann Langeweile nicht auch als Antrieb dienen?
Sie ist ein unangenehmes Gefühl und weil sie eben so unangenehm ist, gibt es uns Energie und einen Impuls, die Situation zu verändern. Man braucht aber Zeit, um sich mit den Ursachen der eigenen Langeweile auseinanderzusetzen und den richtigen Weg für sich zu finden. Viele schlagen allerdings den falschen Weg ein.
Welcher ist das?
Es gibt eine Verbindung zwischen Langeweile und Süchten. Menschen, die sich stark langweilen, tendieren dazu, Alkohol zu trinken oder Drogen zu konsumieren. Essstörungen spielen auch eine Rolle. Außerdem gibt es Korrelationen mit Depression, Einsamkeitsgefühlen, Aggression und Gewalt.
Was kann man denn gegen die Langeweile tun?
Es ist wichtig, sie nicht als Ja-Nein-Kategorie zu sehen, sondern eher als Einschätzungsskala. Vielleicht von Bore-out: 0 bis Superflow: 10. Wenn ich bei Langeweile zum Handy greife, wird das Gefühl weniger, ist aber immer noch da. Es ist wichtig, sich mit den eigentlichen Ursachen der Langeweile auseinanderzusetzen. Wenn ich mich zum Beispiel in meiner Partnerschaft langweile, bringt es nichts, wenn ich mir zur Ablenkung eine Serie nach der anderen anschaue. Langfristige Veränderung hilft mehr als kurzfristige Betäubung. Allerdings, und das ist ein wichtiger Punkt in meinem Buch, haben nicht alle Menschen die Möglichkeiten, sich selbst aus der Langeweile zu befreien. Menschen in Flüchtlingsunterkünften brauchen keine persönlichen Tipps gegen Langeweile, sondern strukturelle Veränderungen.
Sollten wir unseren Blick auf die Langeweile also ändern und sie als wertvolles Gefühl sehen, dass uns wichtige Hinweise zu unserer inneren Zufriedenheit gibt?
Ich denke, vor allem sollten wir erkennen, dass Langeweile kein persönliches Versagen ist. Außerdem sollten wir chronische Langeweile nicht kleinreden. Wenn wir die negativen Auswirkungen von Langeweile gesamtgesellschaftlich überwinden wollen, dann müssen wir allen Menschen, unabhängig von Herkunft, Klasse und Gender, ein selbstbestimmtes freies Leben ermöglichen.
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 05/23.
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