Oft bemerken wir viel zu spät, wie gestresst wir eigentlich sind. Wie wir besser entspannen und unser seelisches Immunsystem stärken, erklärt EMOTION-Coach Tanja Rosenbaum.
So stärkst du dein seelisches Immunsystem
Stress hat sich als Parade-Antwort etabliert, wenn wir uns nach unserem täglichen Befinden fragen. Schließlich ist es gesellschaftlich höchst anerkannt, immer on-the-run und latent gestresst zu sein. Aber was ist belebender Alltagstrubel und ab wann wird es wirklich zu viel?
Wir müssen uns unseres Stresses nicht bewusst sein, um gestresst zu sein.
Tanja Rosenbaum, Coach und AutorinTweet
Unbemerkter Stress fängt früh an
Wir entscheiden nicht bewusst darüber, ob wir uns stressen lassen oder nicht. Unbemerkter Stress passiert einfach. Deshalb ist uns häufig auch nicht bewusst,
- dass wir gestresst sind,
- dass wir gestresst waren, doch den Zustand noch nicht aufgelöst haben,
- dass wir nicht den Stress selbst vermeiden sollen.
Warum der Umgang mit Stress wichtig ist
Tatsächlich ist nicht der Stress unser Problem, sondern unser Umgang damit. Im Stresszustand der Angst wird unser sympathisches Nervensystem aktiv, das unser Überleben sichern will. Es setzt uns schon in Bewegung, bevor unser Frontalgehirn realisiert hat, dass wir eine Gefahr wittern. Dieser Mechanismus ist klug und darf als solcher gewürdigt werden. Entscheidend ist unsere Wahrnehmung, die folgt: Erkenne ich meine Angst, akzeptiere ich sie und gebe ihr einen Platz, in dem Moment wo sie mir bewusst wird?
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Bewusstsein ist der erste Schritt
In der Corona-geprägten Zeit löst allein schon das Wort 'Corona' Stress aus. Keiner mag es mehr hören und erst recht nicht über die Konsequenzen nachdenken. Wir sind gestresster und gereizter, wie eine Studie darüber zeigt, was Corona mit unserer Psyche macht. Die Diskussion, ob die getroffenen Maßnahmen angemessen seien oder nicht, stressen auf besondere Weise, denn sie finden kein Ende. Deshalb können wir die Debatte über den richtigen Umgang mit Corona nutzen und bei uns selber beginnen:
- Wir blicken nach innen.
- Wir stärken uns innerlich.
- Mit jeder Aufregung oder Herausforderung schauen wir noch intensiver nach innen.
Wieso ist das so wichtig, wo doch das ganze Chaos im Außen passiert?
Stress schlägt auf unser Immunsystem
Ein gesundes Nervensystem findet nach der Anspannung durch die Stress-Situation automatisch in die Entspannung. Doch für viele Menschen hält der aktuelle Stresszustand an. Selbst wenn wir begonnen haben, die Nachrichten auszuschalten.
Dafür gibt es viele Erklärungen:
Überlebensmodus: Die Corona-Krise rüttelt an unserem Gefühl, sicher zu sein. Wenn wir die Gefahr des Virus nicht einordnen können, bleiben wir wachsam und erregt. Der Anblick der Atemmasken stresst unser System, weil wir dadurch ständig an den Virus erinnert werden. Der Verlust des Arbeitsplatzes tilgt unser Einkommen und damit unsere wirtschaftliche Sicherheit. Krankheitssymptome wie Husten oder Kopfschmerzen schalten die Alarmglocken an. Im Grunde stellt sich jeder – häufig unbewusst – die Frage: Werden wir überleben? Das sind nur einige Beispiele aus einer Reihe von Faktoren, die wir vor einem Jahr noch nicht in dieser Masse verarbeiten mussten.
Unbemerkter Stress: Einige Menschen sind sich des Stresses gar nicht bewusst. Ich erinnere mich an eine Führungskraft, die mir versuchte zu versichern, dass die im Urlaub gelesenen, dienstlichen Mails sie nicht stressen. Verkannt wird dabei, dass unser Nervensystem autonom handelt: Der Stresszustand mobilisiert unseren Körper ohne unser Bewusstsein. Schließlich ist es autonom! Für Ungläubige gibt es glücklicherweise die Messung der Herzratenvariabilität, die schwarz auf weiß Daten liefert. Wir müssen uns unseres Stresses nicht bewusst sein, um gestresst zu sein.
Notlösungen: Einige Menschen erkennen ihren Stresszustand, wissen aber nicht, wie sie diesen aktiv beenden können. Das autonome Nervensystem lässt sich nicht bitten und schon gar nicht bevormunden. Der Griff zum Glas Rotwein, zum Bier oder zum Schlafmittel ist an diesem Punkt häufig eine unbewusste Notlösung.
Falsche Ablenkung: Einige Menschen glauben, der Fernsehabend könne für eine innere Entspannung sorgen, schließlich werde man fein abgelenkt von dem Stress in der realen Welt. Die Ablenkung ist in der Regel eine Verdrängung und keine Erlösung aus der Aktivierung des Sympathikus, erst recht nicht wenn Serien wie Game of Thrones geschaut werden. ;-)
So stärken wir unser seelisches Immunsystem
Wie finde ich aktiv in die Entspannung? Drei Ideen können helfen:
Idee 1: Den Stress annehmen
Ich erkenne an, dass der Stress in meinem Leben zu mir gehört, wie meine Arme und Beine zu meinem Körper. Er kann mein Freund werden, solange ich von ihm nicht überrollt werde. De facto ist bereits dieses Freundschaftsangebot ein Schritt in die richtige Richtung: Gesundheitspsychologin Kelly Mc Gonigall hat einen interessanten Ted-Talk zu diesem Thema gehalten und ein Buch geschrieben: Glücksfaktor Stress – warum Stress uns erfolgreich und gesund macht.
Idee 2: Verbundenheit zu sich selbst fördern
Je mehr Stress ich habe, desto mehr investiere ich in meine aktive Entspannung-Zeit. Das setzt voraus, dass ich in guter Weise mit mir verbunden bin. Eine Strategie, die eigene Verbundenheit zu fördern, können offene Fragen sein, die ich mir selber stelle:
- Wie fühle ich mich?
- Was brauche ich jetzt, um mich ein wenig besser zu fühlen?
- Was kann ich konkret tun, ob mir dieses Bedürfnis zu erfüllen?
Ungeduldige Menschen berichten mir manchmal, es wäre entsetzlich still geworden bei diesen Fragen. Auch das gilt es auszuhalten. Ich beobachte oft, dass die wohlwollende innere Stimme verstummt, wenn ihr lange Zeit nicht mehr zugehört wurde. Dann braucht es Einfühlungsvermögen für sich selbst und eine große Portion Vertrauen, dass Antworten folgen werden, wenn man sich liebevoll, geduldig und regelmäßig Zeit für diese Fragen (und Antworten) nimmt.
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Idee 3: Auf die innere Stimme achten
Ich beobachte meinen Umgang mit mir selber. Wenn ich merke, dass ich in ungünstige Verhaltensmuster verfalle, dann achte ich ganz besonders auf meine Sprache. Wie spreche ich mit mir? Bin ich fürsorglich oder kritisierend? Rede ich in Ausdrücken wie. „Ich muss..., ich soll...“ oder nutze ich „Ich entscheide mich..., ich nehme mir Zeit...“. In unserer Sprache liegt ein unglaubliches Potenzial für Veränderung. Sie näher zu durchleuchten kostet nichts und ist zu jeder Zeit möglich.
Wenn wir uns erlauben, in gutem Kontakt mit uns zu sein und unserem Wohlbefinden Priorität einräumen, dann helfen wir unserem Immunsystem stark und widerstandsfähig zu sein – egal, was gerade in der Welt auf uns zukommt.
Tanja Rosenbaum ist zertifizierter Master Coach und Trainerin für salutogenes Führen und Autorin des Buches: Was uns gesund hält.