Wie können wir alle gestärkt aus dieser Krise herauskommen? SLOW-Mate Jan Lenarz, Erfinder des beliebten Achtsamkeitsplaners "Ein guter Plan", plädiert für mehr Selbstreflexion und hat dafür fünf wichtige Fragen identifiziert.
Dieser Text ist Teil unserer Reihe SLOW-Mates. Verschiedene Blogger*innen, Influencer*innen und Coaches geben uns darin wertvolle Gedankenanstöße und Tipps zu Themen, die für ein gutes Leben wichtig sind. Wir freuen uns, dass Jan Lenarz bei unseren SLOW-Mates dabei ist!
Erst Heilung, dann Wachstum: Es ist Zeit für Fragen, die wehtun.
Oft enden meine Artikel mit konkreten Tipps, wie man das Kernthema denn nun positiv auflöst, aber diesmal kann ich keine Antworten geben. Ich bin Autor für Achtsamkeit und Selbstreflexion und kann nicht mehr leisten, als darauf hinzuweisen, dass wir auf der Hut sein müssen, wenn wir jetzt wirklich etwas verändern wollen. Dass von allein nicht automatisch alles besser, sozialer und irgendwie anders wird. Und dass wir, verdammt noch mal, mehr Raum für Schmerz brauchen, wenn irgendetwas wie eine Chance entstehen soll. Was ich aber diesmal – statt Antworten – geben kann, sind Fragen.
Post-Corona Frage Nr. 1:
Was oder wer hat dir in der Krise gefehlt?
Das Yoga-Studio? Der Mannschaftssport? Die Bars, Restaurants, Kinos und Theater? Die sozialen Kontakte? Welche genau? Und welche gar nicht? Brauchst du diese Menschen dann wirklich in deinem Leben? Mit wem hast du in den letzten Wochen kommuniziert? Bei wem hast du dich gefragt, wie es ihr*ihm geht? Bei wem interessiert es dich jetzt? Wer hat sich für dich interessiert? Wie die Verlegerin Maria Anna-Schwarzberg gesagt hat: "Wie geht’s" hat in den letzten Wochen zeitweise eine echte Bedeutung bekommen und war oft viel ernster gemeint als sonst.
Ich muss mich z. B. ernsthaft fragen, warum ich das Kulturleben erschreckend wenig vermisst habe. Warum lebe ich eigentlich in Berlin, wenn ich dessen Kulturleben nicht nutze und in keinem nennenswerten Umfang an der Club- und Ausgehkultur teilnehme?
Post-Corona Frage Nr. 2:
Hast du jetzt eine schlechtere Meinung von deinen Mitmenschen oder eine bessere?
Für beides lassen sich ganz fantastische Argumente finden. Corona-Partys, Hamsterkäufe, Verschwörungstheorien: Ist dein Fokus auf diese Art individueller und kollektiver Verfehlungen groß, müssen die letzten Monate für dich besonders anstrengend gewesen sein. Hast du ein wachsames Auge auf soziale Ungerechtigkeit, werden dich unzureichende Soforthilfen und Förderungen oder unklare Betreuungssituationen für Kinder und ähnliche institutionelle Schwächen sicher völlig in den Wahnsinn getrieben haben, sodass du jetzt vielleicht noch schlechter von dieser Gesellschaft denkst, als dies vorher der Fall war oder sich deine negative Sichtweise zumindest verfestigt hat.
Andererseits: Wir haben die Curve geflattet. Ohne die breite Akzeptanz der Gesellschaft von zeitweise mehr als 80 % in der Bevölkerung bezüglich Einschränkungen und restriktiven Verhaltensweisen wäre dies gar nicht möglich gewesen. Dafür war auch ein großes Vertrauen von Bürger*innen und Politik in die Wissenschaft nötig, was keineswegs selbstverständlich für eine Gesellschaft ist, in der Wissenschaftsfeindlichkeit mit informierter Skepsis gleichgesetzt wird.
Dazu kommt ein großes Maß an Solidarität, Nachbarschaftshilfen und die Tatsache, dass all die Maßnahmen nur ergriffen wurden, um Risikogruppen zu schützen und das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Das ist keineswegs selbstverständlich! Nicht nur in den USA waren die Forderungen laut, die Wirtschaft kein bisschen runterzufahren und Tote einfach in Kauf zu nehmen. Ist die Gesundheit der Gesellschaft am Ende doch wichtiger, als die Gewinne der Gewerbe? Diese Faktoren würden durchaus einen leicht optimistischen Blick auf unsere Zivilisation erlauben.
Da diese Frage sehr komplex ist, muss deine Antwort auch nicht eindeutig das eine oder das andere sein. Auch "Menschen können in ihrer eigenen Bezugsgruppe ganz schön dumm sein, aber es ist nicht jede Hoffnung verloren", wäre beispielsweise eine gute Erkenntnis.
Post-Corona Frage Nr. 3:
Wie geht es deiner mentalen Gesundheit?
Warst du resilient genug und denkst, du hast keine bleibenden Schäden davongetragen? Oder fühlst du dich jetzt kaputt, erschöpft und ohne Halt? Hast du dich einsam gefühlt? Und wenn ja, wie schmerzhaft war das Gefühl? Haben dich die ganzen Tipps für Beschäftigung im Homeoffice vielleicht gestresst? Wirkten sie oft zynisch? Fehlt dir die Arbeit im Büro und ist die Digitalisierung vielleicht doch nicht die Lösung, auch wenn sich gezeigt hat, dass technisch sehr viel möglich ist? Hattest du Angst, dich selbst anzustecken? Was hat es mit dir gemacht, als du erfahren hast, dass auch immer wieder gesunde Menschen aller Altersgruppen sterben können? Hast du dich in diesen Momenten mit deiner eigenen Sterblichkeit beschäftigt? Und wenn nicht, warum nicht? Macht es etwas mit dir, dass 350.000 bis 500.000 Tote zu beklagen sind? Oder ist die Zahl schon so groß und abstrakt, dass sie gar nichts in dir auslöst? Und wie trauert man eigentlich um eine große, anonyme Masse?
Und ganz allgemein: Wie hast du dich, ganz persönlich in den letzten Monaten, geschlagen? Bist du vielleicht sogar positiv von dir überrascht? Fühlst du dich vielleicht schlecht, weil es dir vergleichsweise ziemlich gut ging? Hast du die Krise doch als Entschleunigung wahrgenommen und das Gefühl gehabt, nicht ständig etwas zu verpassen? Und: Wie fühlt es sich an, etwas durchgemacht zu haben, über das es bald Filme, Serien und viele, viele Bücher geben wird?
Post-Corona Frage Nr. 4:
Ist die Krise wirklich eine Chance für die Umwelt, wenn sich nun alle nach Normalität sehnen?
Klares Wasser in Venedig, saubere Luft in vielen Großstädten, streunende Schafe auf Istanbuls Autobahnen. Diese Vorher-Nachher-Bilder machen sich gut auf Social Media. Warum sie als Rettung der Umwelt gefeiert wurden, ist mir aber nicht klar, denn es fehlt das Nach-dem-Nachher-Bild. So ist die Luftqualität nach dem Lockdown wieder auf dem Weg zu Prä-Corona-Zeiten und es gibt auch keine Schafe mehr auf Autobahnen.
Ändert sich wirklich das System, weil es für ein paar Wochen kollabiert war? Oder wurde es sogar gestärkt, weil es allen Menschen so viel schlechter ging, als es zum Stillstand kam? Führt das nicht dazu, dass viele Menschen jetzt weniger Akzeptanz für Kompromisse, Verzicht und Einschränkungen haben? Führt das alles zu weniger Kritik an unserem System, weil vielen jetzt erst der Wert ebendiesem klar wurde? Oder haben wir jetzt doch alle gelernt, wie wenig wir eigentlich zum Überleben brauchen und Konsumkritik wird gesellschaftsfähiger? Auch hier gilt: Nur weil es eine Krise gab, ist noch lange keine Chance für positiven Wandel ergriffen.
Jan Lenarz ist Gründer und Geschäftsführer von Ein guter Plan. Er engagiert sich politisch für mentale Gesundheit und schreibt über Achtsamkeit, Depression und Burnout. Entspannen kann er trotz aller Expertise beim Thema Stressvermeidung am besten im Fitnessstudio und keiner weiß, was da schief gelaufen ist.
Post-Corona Frage Nr. 5:
Was kommt jetzt?
Hast du einen Plan für den Rest des Jahres? Oder brauchst du vielleicht keinen? Gab es Forderungen in deiner Branche, diese nach dem Lockdown sozialer zu gestalten, wie es z.B. in Pflegeberufen der Fall war? Und drohen diese Forderungen jetzt unterzugehen, weil die Aufmerksamkeit nur kurzfristig war? Was muss getan werden, damit echter Wandel entsteht?
Und was brauchst du jetzt? Mehr Gemeinschaft? Mehr Sport? Oder doch einfach nur mehr Normalität? Wenn ja, kannst du es dann nachvollziehen, wenn das allen Menschen so geht und sich genau deswegen keine echten Reformen durchsetzen? Oder verspürst du doch so etwas wie Selbstwirksamkeit und Aufbruch?
Gestärkt aus der Krise – das geht nur mit Selbstreflexion
Dies sind nur Beispiele, mit denen wir uns nun ausgiebig beschäftigen sollten. Es gibt Millionen weitere mögliche Fragen. Ich möchte mit diesem Text nur auf zwei Dinge hinweisen: Erstens, dass es unwahrscheinlich ist, dass wir alle gestärkt aus der Krise gehen, wenn wir diesen Prozess der Reflexion überspringen. Dass wir uns erst fragen müssen, was wir brauchen, bevor wir verkünden können, was wir jetzt wollen. Und zweitens, dass das Streben nach Altbekanntem jetzt groß ist und wir achtsam bleiben müssen, damit sich Dinge wirklich zum Positiven verändern.
Nimm dir die Freiheit, dich jetzt mit den großen Fragen des Lebens zu beschäftigen. Du hast verdammt noch mal gerade eine globale Pandemie überlebt und hattest dabei mehr Glück, als viele hunderttausend andere Menschen. Lass dir nicht einreden, dass Aufbau und Wachstum jetzt das einzige ist, was zählt. Akzeptiere deine Wunden und verlange nicht zu viel von dir. Und dann ergibt sich, mit der Zeit, so etwas wie Heilung. Und erst darauf blüht dann auch zarter, aber nachhaltiger, Wachstum.
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