Häusliche Gewalt gegen Frauen findet unabhängig von sozialen Schichten, kulturellem Hintergrund und Alter statt. Ein Interview mit dem Psychologen Dr. Klaus Sejkora.
Für Manche ist das schwer zu glauben: Häusliche Gewalt erfahren Menschen unabhängig von Alter, sozialem oder kulturellem Hintergrund. Können Sie erklären, warum das so ist?
Klaus Sejkora: Alle diese Dinge haben wenig zu tun mit dem Kern der menschlichen Persönlichkeit. Sie sagen nichts darüber aus, wie ein Mensch mit sich selbst und anderen Menschen umgeht. Alter, Kultur und sozialer Hintergrund sind äußere Umstände. Das ist nur eine dünne Schicht der Zivilisation. Die inneren Umstände haben dagegen viel mit den Erfahrungen zu tun, die wir früh in unserem Leben machen.
Wie kommt es dazu, dass Menschen sich bei häuslicher Gewalt keine Unterstützung suchen?
Menschen, die Gewalt erleben, suchen die Schuld fast immer bei sich. Sie glauben, dass sie für den Gewaltausbruch verantwortlich sind. Sie empfinden deshalb oft große Scham, wenn sie daran denken, sich Hilfe zu suchen. Sie befürchten, dass ihnen Mitschuld vorgeworfen wird. Die Ursache dafür ist eine gesellschaftlich weit verbreitete Haltung. Die Frage "Warum sagt sie das erst jetzt?" ist beispielsweise eine der ersten Reaktionen auf die MeToo-Debatte. Dass eine Frau bei einem Missbrauch zumindest eine Mitschuld trägt, ist immer noch eine weit verbreitete Haltung. Nach dem Motto "Wenn sie zu ihm in die Wohnung geht, dann braucht sie sich nicht zu wundern“.
Warum gehen missbrauchte Frauen wieder zurück zum Täter?
Weil sie die Hoffnung haben, dass alles wieder gut wird. Es ist ja nicht so, dass die Täter durchgängig, also ununterbrochen, gewalttätig sind. Viele Täter haben zwei Seiten, nicht nur eine aggressive, sondern auch eine nette und liebevolle Seite. In diese hat sich das Opfer ja auch verliebt. Deshalb gibt es Momente, in denen die Täter reumütig und scheinbar einsichtig sind. Sie schwören dann, dass sie nie wieder gewalttätig sein werden. Darauf vertrauen die Opfer dann. Für sie ist das ein Zeichen, dass ihr Partner sie ja doch liebt. Die Patientinnen halten an dem Glauben fest, dass sich ihr Partner verändern wird. Das erlebe ich in meiner Praxis immer wieder. Sie gehen zurück in dem Glauben, dass sie selbst ihren Mann zum Positiven verändern können – wie in dem Märchen von der Schönen und dem Biest. Durch die Liebe der schönen Frau wird das Biest geheilt und zu einem guten Menschen.
Was haben diese Gewaltopfer in ihrer Kindheit erlebt?
Nicht immer, aber häufig sind es Frauen, die schon als Kinder Gewalt erlebt haben – körperliche und seelische Gewalt. Sie wurden nicht dazu erzogen, eigenständig zu sein und sich als Mensch wertvoll zu fühlen.
Solche Menschen hoffen darauf, dass sie eine Beziehung finden, in der alles gut wird. So müssen sie sich nicht mehr mit ihrer schmerzhaften Kindheit beschäftigen. Daraus kann ein Zyklus entstehen, der es ihnen immer schwerer macht, sich von einem gewalttätigen Partner zu lösen. Je mehr sie zum Opfer werden, umso mehr schämen sie sich und umso mehr hoffen sie darauf, geliebt zu werden.
Sie hoffen weiterhin darauf, dass ihr Partner sich ändert, obwohl sie immer wieder enttäuscht werden?
Wenn Sie inständig auf etwas hoffen, können Sie sich nichts Schöneres vorstellen als die Erfüllung der Hoffnung. Die Menschen müssten erst die alte Hoffnung aufgeben, dass sozusagen rückwirkend ihre Kindheit gut gemacht werden könnte. Dazu müssen die Opfer die leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit als ihre eigene Vergangenheit, als unveränderbare Tatsachen akzeptieren und ihr Trauma annehmen. Erst dann können sie sich auch mit dem gegenwärtigen Trauma beschäftigen und auch die Hoffnung aus der Gegenwart loslassen, dass wenigstens diese Beziehung gut werden könnte. Eine Hoffnung aufzugeben ist meiner Erfahrung nach wahrscheinlich das Schwierigste im menschlichen Leben überhaupt. Es ist dabei ganz egal, wie unwahrscheinlich es ist, dass sie in Erfüllung gehen wird.
Warum gehen Opfer zum Täter zurück?
Wenn Opfer zurück zum Täter gehen, hat es, wie gesagt, häufig damit zu tun, dass die Opfer bewusst und unbewusst hoffen, dass es besser wird und sich so das Trauma von alleine auflöst. Menschen suchen sich unbewusst immer wieder ähnliche Lebenssituationen in der Hoffnung, dass es gut ausgeht. Das nennen wir in der Transaktionsanalyse "Skript". Dabei handelt es sich um einen unbewussten Lebensplan. Wir Menschen organisieren uns in die Welt in unserer Wahrnehmung immer wieder wie wir sie kannten und hoffen, dass es gut ausgeht. Dabei passiert Opfern häufig das Gegenteil.
Was sind passive Verhaltensweisen und womit hängen sie zusammen?
Unter passiven Verhaltensweisen verstehen wir in der Transaktionsanalyse ein Verhalten, das einer unbewussten bis bewussten Haltung entspringt. Menschen denken manchmal, sie könnten nichts verändern und wären abhängig vom Umfeld. Sie wollen andere dazu bewegen, etwas für sie zu tun, damit Veränderung möglich werden kann. Wir unterscheiden dabei vier Verhaltensweisen. Auf der ersten Stufe tut das Gewaltopfer gar nichts und hofft, dass das Problem sich von selbst löst. Die zweite Stufe ist Überanpassung. Das Opfer versucht, ganz lieb und nett zu sein, damit sich der Täter ändert. Das wird nichts ändern, weil der Täter ja die Schuld für alles beim Opfer sieht. Je mehr das Opfer versucht sich überanzupassen, desto aggressiver wird der Täter. Die dritte Stufe heißt "agitiertes Verhalten". Das ist so etwas wie eine Übersprungshandlung. Es ist ein ständiges Wiederholen von Handlungen, die nicht lösungsorientiert sind. Das beginnt schon beim Wippen mit dem Fuß, um irgendwie die Anspannung loszuwerden. Das können auch Dinge wie unaufhörliches Putzen oder etwas anderes sein. Die vierte Stufe hat zwei Seiten. Bei der einen Variante machen sich Menschen unfähig, indem sie beispielsweise Verzweiflungsausbrüche haben oder sich selbst verletzen. Die andere Variante ist offene Gewalt, verbale wie körperliche. Beide, Opfer wie Täter, setzen intensiv passive Verhaltensweisen ein. Wir alle kennen diese Formen des passiven Verhaltens, aber natürlich setzen wir nicht alle Gewalt ein. Das Charakteristische an Passivität ist, dass wir glauben, nichts verändern zu können.
Was kann aus den passiven Verhaltensweisen herausführen?
Zu erkennen, dass man als Mensch wertvoll ist und es nicht verdient hat, schlecht behandelt zu werden. Und zu begreifen, dass man sein Leben nur selbst verändern kann und niemand anders. Das ist leicht gesagt. In Wahrheit ist es ein mühsamer Prozess.
Was raten Sie Menschen, die häusliche Gewalt erleiden?
Der erste Schritt ist zu realisieren, dass man ein Opfer ist und nicht mitschuldig. Es ist wichtig, sich bewusst zu sein, dass keinem Menschen Gewalt angetan werden darf und dass das tiefstes Unrecht ist.
- Es ist wichtig, die innere Haltung zu sich selbst zu ändern: Ich bin ein Gewaltopfer und ich darf mir Hilfe holen.
- Das beginnt damit, sich an den Frauennotruf und an die Polizei zu wenden, bis hin zu entsprechenden Einrichtungen wie Frauenhäuser. Betroffene, die Gewalt erlebt haben, können sich an das bundesweite Hilfetelefon wenden. Unter 08000 116 016 und per Online-Beratung auf hilfetelefon.de berät das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ rund um die Uhr - anonym und kostenfrei.
- Man sollte nicht versuchen mit dem Täter zu reden und ihn zu Verständnis zu bewegen. Wenn reden das Problem lösen würde, wäre es schon längst gelöst.
- Frauen, die zu Gewaltopfern werden, haben meist schon längst versucht zu reden, und das ohne Erfolg.
Dr. Klaus Sejkora ist Psychologe, Autor, Lehrtrainer für Coaching und Supervision und hat sich auf Transaktionsanalyse spezialisiert. Seine Praxis ist in Linz.
* Dieses Interview konzentriert sich nur auf weibliche Opfern, da die Antworten in Bezug männlichen Opfer anders ausgefallen wären.