Die 'Juramama' Nina Straßner über ein Jahr #MeToo in Deutschland, erste Erfolge und darüber, und was sich ändern muss.
Nina Straßner, Juristin, über 'MeToo' in Deutschland, die gesellschaftlichen Folgen und was Betroffene tun können
"Deutschland hat sein #MeToo-Thema noch nicht so richtig gefunden. Da wird noch viel zu viel weggelächelt und abgewunken", sagt Nina Straßner. Die Kieler Fachanwältin für Arbeitsrecht und erfolgreiche Bloggerin ("Juramama") ist eine der wichtigsten Stimmen im Netz für alle Rechtsfragen von Frauen und Familien. Gerade ist ihr leidenschaftlicher Beitrag zum Paragraf 219a StGB erschienen und hat für Aufsehen gesorgt.
Ich wollte mit ihr über #MeToo sprechen, weil ich auf der Jobmesse "Hercareer" an einem ihrer Workshops zu diesem Thema teilgenommen habe. Dort erzählten viele Frauen, wie hilflos sie der – teilweise auch kontinuierlichen – sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz gegenüberstehen. Was kann man diesen Frauen raten? Wo und wie fangen wir an?
EMOTION: Hast du dich schon vor #MeToo mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz beschäftigt?
Nina Straßner: Ja, klar. Aber das waren da noch so eher arbeitsrechtliche Zufallsfunde. Die Mandantinnen kamen mit einem anderen Thema zu mir, etwa: "Ich soll versetzt werden und will da nicht hin. Muss ich das hinnehmen?" Im Gespräch höre ich die Stories hinter der Story, und die haben meistens einen sehr ähnlichen Plot: Es gibt ein Problem mit sexueller Belästigung durch einen Kollegen. Oft haben oder hatten das auch andere Kolleg*innen.
Die Mandantin ist oft diejenige, die sich beim Arbeitgeber beschwert hat. Reflexhaft wird sie dann selbst aus der Schusslinie genommen und so das Problem verschoben, statt dass der belästigende Kollege sanktioniert wird. Viele Mandantinnen hatten vor der #MeToo-Bewegung gar nicht auf dem Schirm, dass sexuelle Belästigung und auch der falsche Umgang damit ein eigenes, sanktionierbares Recht ist, das sie auch ohne Kündigungen oder Versetzungen verfolgen können. Und eigentlich sogar müssen.
Warum denn "müssen"? Ist derjenige schuld, der sich nicht wehrt?
Damit das klar ist: Niemand, der sich nicht wehrt, ist selbst schuld an einer Belästigung. Es ist immer der schuld, der belästigt. Es gibt aber handfeste, rechtliche Möglichkeiten, denn im Arbeitsverhältnis gilt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Allerdings muss sich jemand, der sexuell belästigt wurde und sich auf Grundlage des AGG wehren möchte, geradezu lächerlich kurze, realitätsfremde Fristen einhalten. Zum Beispiel gilt eine Frist von zwei Monaten ab dem Vorfall, um ihn schriftlich geltend zu machen. Dann nochmal drei Monate, um zu klagen.
Was bedeutet das?
Dass zum Beispiel die Zeit, in der man versucht, die Sache im Unternehmen in den Griff zu kriegen, nicht fristverlängernd wirkt. Nach zwei Monaten ohne Brief an die Chefin ist Schicht im Schacht. Das läuft in vielen anderen Bereichen juristisch ganz anders, da bleibt einem viel mehr Zeit.
Warum ist die Frist zu kurz?
Bis man eine schriftliche Beschwerde einreicht oder überhaupt weiß, dass man das tun muss, ist schon Ostern und die Weihnachtsfeier zu lange her. So ist die Praxis! Und selbst wenn man sofort geschrieben hat, wird erst einmal geredet und verhandelt und geforscht und ein Angebot gemacht, und wer dann nicht in den nächsten drei Monaten klagt, um sich den Anspruch aus dem AGG zu erhalten, ist raus. Wie praktisch für den Arbeitgeber, wer beeilt sich denn da bitte mit Lösungen? Eine Klage ist für die Opfer der Super-GAU. Da kann man seinen Arbeitsplatz, den man eigentlich durch all die Gespräche erhalten wollte, vergessen. Diejenigen, die belästigt werden, werden in einen permanenten Aktionismus getrieben und müssen enorm viel Wissen über ihre Rechte vorhalten. Und sie müssen eigenes Geld für die Klage ausgeben, um eine Selbstverständlichkeit, wie einen belästigungsfreien Arbeitsplatz, zurückzubekommen – und dann reden wir vor Gericht über "Fristen". In diesen Bereichen fehlen einfach automatische Sanktionen und andere Druckmittel.
Was hat sich seit #MeToo geändert?
Meine Mandantinnen erzählen direkter und ohne Nachfrage, was ihnen passiert ist.
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Transsexuelle oder homosexuelle Frauen sind überdurchschnittlich oft von sexueller Belästigung betroffen, aber mir scheint, dass sie allein aufgrund ihrer gesellschaftlichen Realitäten schon länger dieses Unrechtsbewusstsein auf dem Schirm haben. Hilflos sind sie trotzdem. Die allermeisten lassen sich immer noch nicht allein wegen der sexuellen Belästigung von mir beraten, sondern weil sie kündigen oder einen Aufhebungsvertrag schließen wollen und einen Plan brauchen. Sie wollen in so einem blöden Laden einfach nicht mehr arbeiten.
Woran ich den Bewusstseinswandel noch merke, ist, dass sie sich weigern, ein Stillschweigen über den Vorfall in den Aufhebungsverträgen zu akzeptieren.
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Das fordern die Arbeitgeber?
Ja, aber da ist die Sensibilität der Mandantinnen merklich größer geworden. "Mit einer Abfindung kauft ihr nicht mein Schweigen, damit hebt ihr nur mein Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung der Kündigungsfrist außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes auf." Dieses Unrechtsbewusstsein ist neu. Und richtig.
Bei diesem Thema des AGG klagen viel öfter die Beschuldigten – und nicht die Opfer. Wie kommt das denn?
Klagen auf AGG-Basis seitens der Opfer sind vor den Arbeitsgerichten die Ausnahme. Die Thematik um das AGG und sexuelle Belästigungen werden gerichtlich überwiegend im Rahmen von Klagen geklärt, in denen Täter gegen Sanktionen vorgehen, die deswegen gegen sie ergriffen wurden: Abmahnungen, Umsetzungen, Versetzungen, Kündigungen. Das Gericht prüft, ob die Maßnahme arbeitsrechtlich auf Grundlage des AGG gerechtfertigt war. Und dabei wird die Belästigung als Ausgangspunkt der Maßnahme quasi indirekt mit geklärt. Die Opfer sind dann in diesem Prozess nicht Partei, sondern Zeug*innen und bekommen Zeugengeld, anstatt Geld für eine eigene Klage ausgeben zu müssen. Es ist eigentlich total widersinnig, dass auf diesem Wege hier die Rechtsfortbildung stattfindet.
Wie oft bekommen die Kläger denn Recht?
Das kann man nicht pauschal sagen. Manchmal war die Maßnahme aus Sicht des Gerichtes angemessen und manchmal nicht, und meistens endet es eh in einem Vergleich. Vergleiche werden nicht veröffentlicht, und wir erfahren nichts über die Beweggründe. Aber selbst wenn die Sanktion gerichtlich kassiert wird, heißt das nicht, dass die sexuelle Belästigung im Zweifel nicht stattgefunden und die Frau gelogen hat, sondern nur, dass die Maßnahme der Arbeitgeber*innen aus Sicht der Gerichte "unverhältnismäßig" war. Die Täter präsentieren das natürlich gerne anders und sagen: "Ich habe Recht bekommen."
Was ist denn "angemessen"?
Ein Playboy-Witz am Mittagstisch dürfte, je nach den Umständen, tendenziell eher eine Abmahnung nach sich ziehen. Eine "witzige" Aufforderung, die Kollegin möge nach dem bestandenen Tauchschein doch mal hier unten schnorcheln gehen, ist spätestens nach der #MeToo Debatte sicherlich kündigungsrelevant. Aber nur dann, wenn sich davon jemand belästigt gefühlt hat. Lustig ist übrigens, dass "mangelnde Lustigkeit" fast immer angeführt wird. Der juristisch völlig irrelevante Narrativ der "Spaßbremse" ist einfach überall.
Die eigentlichen Opfer klagen seltener?
Ja, denn man kann nicht darauf klagen, dass ein anderer gekündigt oder versetzt wird. Deswegen ist auch das "Rachemotiv", das Opfern oft ans Revers gepinnt wird, so dämlich. Das AGG sieht Schadenersatz oder Schmerzensgeld vom Arbeitgeber als Rechtsfolge vor. Einen Schaden muss man beziffern, etwa, dass man wegen der Vorfälle eine Therapie machen musste. Dafür muss man so unsäglich herum rechnen und Gutachterkosten schultern, dass es keine Freude ist. Und auf Schmerzensgeld wird auch selten geklagt. Die Summen sind lächerlich niedrig, da bekommst Du für jeden Mittelfinger, den dir beim Autofahren jemand zeigt, mehr. Deswegen ist dieser Kommentarspalten-Vorwurf "Die wollte halt dick Kohle machen" auch nur in Kommentarspalten zu finden und nicht unter Berufsträgern. Da verdrehen auch die Arbeitgebervertreter meiner Zunft die Augen, denn beide Seiten haben schon solches und solches erlebt.
Du hast erzählt, dass in den Fallsammlungen eine aktuelle fristlose Kündigung besonders aufgefallen ist.
Ja, die wurde in Juristenkreisen diskutiert, weil höchstrichterliche Urteile zu sexueller Belästigung und fristlosen Kündigungen schon eine echte Ansage und äußerst selten sind. In diesem Fall war der Arbeitnehmer schon sehr lange, also seit locker 25 Jahren im Betrieb und bis dahin wohl auch nicht auffällig.
Was war passiert?
Ein Mann hatte einem jüngeren Kollegen zwischen die Beine gegriffen und gesagt: "Na, du hast ja ganz dicke Eier." Dafür war er fristlos gekündigt worden und hatte bis zum Bundesarbeitsgericht geklagt. Wegen einer Belästigungsform, die für Frauen so viele Jahrzehnte Alltag war und oftmals sogar noch ist, haben wir jetzt ganz entscheidende, höchstrichterliche Leitsätze zu sexueller Belästigung. Da kann man schon mal die Augenbrauen hochziehen. Das BAG hat zwei Komponenten entschieden: Zum einen, dass ein sexueller Übergriff immer ein "wichtiger Grund" ist, den es nämlich für eine fristlose Kündigung braucht. Und zum anderen, dass es juristisch völlig unerheblich ist, wie der Täter das subjektiv "gemeint" hat. Sondern nur, ob es geeignet war, die Würde des anderen objektiv zu verletzen.
Offenbar wird "unter Männern" trennschärfer, wo Belästigung anfängt und wo nicht.
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Wie bewertest du denn dieses Urteil?
Das ist ein tolles Urteil. Das aber in der Praxis nur wirken wird, wenn die Arbeitgeber dieses scharfe Schwert auch nutzen. Das tun sie aber meist nur, wenn der Täter nicht ihr gutes Pferd im Stall ist. Meistens trifft es nämlich nur diejenigen in voller Härte, die der Arbeitgeber eh loswerden will. Gute Gelegenheit also. Es sind aber ja gerade oft die "Zugpferde", von denen der Machtmissbrauch ausgeht. Sexuelle Belästigung ist ein Machtinstrument. Keine "Zuneigung" oder "ein Flirt". Dieses Zugpferd lässt sich aber oft nicht so leicht ersetzen, es leistet – und kann sich Dinge leisten –, also will man es behalten. Und dann sind eben die Opfer "Spaßbremsen", "Tugendterroristen", oder wollen nur Geld.
Was rätst du dann Betroffenen?
Wir haben schon lange ein verbrieftes Recht auf einen belästigungsfreien Arbeitsplatz. Viele wissen nicht, dass sie ein Beschwerderecht haben, das im AGG festgeschrieben ist. Und dass es ihrem Arbeitgeber obliegt, auf Beschwerden zu reagieren. Tut er das nicht, kann man ihn dazu zwingen. Es ist eine Pflicht des Arbeitgebers, für ein belästigungsfreies Umfeld zu sorgen, und er muss alles Zumutbare dafür tun.
Das heißt, mein Arbeitgeber muss sich um meine Beschwerde kümmern?
Genau. Es gibt zudem ein Maßregelungsverbot im AGG. Das heißt, der- oder diejenige, der oder die sich beschwert hat, darf nicht gemaßregelt werden, also beispielsweise versetzt werden, wenn er oder sie das nicht will. Wenn die Klagefrist nach dem AGG abgelaufen ist, klage ich oft auf andere Dinge, etwa dass die Versetzung vom Direktionsrecht nicht gedeckt ist. Dann bin ich allerdings darauf angewiesen, dass das Gericht diese Hintergründe einfließen lässt. Was es oft nicht tut. Das AGG finden alle nervig, und das ist richtig schlimm.
Was können Frauen noch tun?
Ein sehr scharfes, aber auch heikles Schwert ist das Leistungsverweigerungsrecht aus dem AGG. Opfer von sexueller Belästigung können die Arbeit verweigern, wenn sie nur so vor weiterer Belästigung geschützt sind. Das sollte aber jede*r von einem Anwalt oder einer Anwältin begleiten lassen.
Warum ist das alles so schwer zu (be)greifen?
Deutlich wird das Ganze im Vergleich zum Mietrecht. Etwa wenn ich sage, dass im Arbeitsrecht das Bewusstsein fehlt und sexuelle Belästigung als "Tugendterror" oder "Spaßfreiheit" oder "Rache" verharmlost wird: Geht in der Bude über mir jeden Abend eine Mordsparty mit 20 Leuten ab, gehe ich auch gegen den Vermieter vor und mindere die Miete. Ich verklage nicht die „lustigen“ Partygranaten. Ich kann nicht darauf klagen, dass denen gekündigt wird, ich selbst kann nur an den Vermieter ran. Natürlich finden die mich dann spießig, aber darauf kommt es objektiv eben nicht an. Sondern: "Ist das geeignet, jemanden um den Schlaf zu bringen, oder nicht?“. Im Zweifel wird den Mietern über mir gekündigt, aber doch nicht mir! Beides, meine Wohnung und mein Arbeitsplatz, sind rechtlich glasklare Schutzräume, und auf die habe ich als Individuum von außen eben nur begrenzt Einfluss. Da kann ich noch dreimal klingeln und um Ruhe bitten. Es rappelt erst im Karton, wenn man über denjenigen geht, der hier die Rechte und Pflichten und das juristische Werkzeug hat. Und das sind die Vermieter – oder eben Arbeitgeber.
Wie gehe ich jetzt eigentlich im konkreten Fall vor?
Wir betreuen die Opfer engmaschig. Wir bereiten sie fast so vor wie vor einem Football-Spiel, nur dass es null lustig ist: Was machst du, wenn du wieder belästigst wirst? Du schreibst zu Hause den Vorfall detailliert auf. So wie Du ihn erlebt hast. Szenen. Orte. Uhrzeiten. Personen. Die Geschichten müssen aus Deiner Sicht zu 100 Prozent stimmen, deshalb schreibe sie gleich auf. Lasse nichts weg, erfinde nichts dazu. Die Erlebnisse verändern sich, je öfter Du jemandem davon berichtest, und verschwimmen. Du suchst dir Zeugen oder Zeuginnen, die das auch aufschreiben und bestätigen können. Dann gehst du damit zu deinem Arbeitgeber, redest und überreichst ihm die schriftliche Schilderung. Das muss kein Roman sein. Schreib, wie Du bist und wie es für Dich war. Wenn nichts passiert, kannst du binnen drei Monaten Klage einreichen. Und wenn man dich gleich kündigt, schlagen wir innerhalb von drei Wochen zurück.