Da war doch dieser Schmerz, der alles überlagerte und vorgab, wie das Leben läuft. Alles richtete sich nach ihm: Kopf, Herz und Bauch. Unser Kolumnist hat sich jetzt davon befreit und tappst noch etwas verwirrt durch die neue Leichtigkeit.
Neulich war der Zug pünktlich. Sogar zweimal. Dabei musste ich umsteigen, und bei sechs Minuten Umsteigezeit rechnet man als erfahrener Bahnkunde ja damit, dass man sich irgendetwas ausdenken muss, damit die Kinder trotzdem abends zu einer halbwegs vernünftigen Zeit das Essen auf dem Tisch haben, während man selbst noch an einem Bahnhof irgendwo in Deutschland hängt, und es heißt: "Grund für die Verspätung ist eine Verzögerung im Betriebsablauf" oder "Wir erreichen in wenigen Minuten Kassel-Wilhelmshöhe. Dieser Zug fällt dort aus." (Es ist lustig, dass es auch eine Erfahrung ist, wenn nichts fährt, sprachlich jedenfalls. Genau wie "Grund für die Verspätung ist eine Verzögerung".) Aber diesmal lief es, und es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn alles läuft, weil Teilzeit- Alleinerziehender zu sein und dabei voll berufstätig normalerweise die Möglichkeit bietet, auf mehreren Ebenen gleichzeitig zu versagen.
Ich kam von einer Lesung. Ich habe aus meinem Buch gelesen, das sehr viel von Liebeskummer handelt, und ich habe dieses Mal zum ersten Mal ohne Liebeskummer daraus vorgelesen. Keinen Liebeskummer zu haben ist ein gutes Gefühl. Allerdings muss man das Misstrauen abschütteln, dass es einem gerade viel zu gut geht.
Worauf soll ich mich konzentrieren, wenn ich kein zentrales Problem in meinem Leben habe? Ich weiß, das klingt ein bisschen wie die Frage, wohin man die Möbel im Wohnzimmer ausrichten soll, wenn man den Fernseher abgeschafft hat. Aber was bleibt einem, wenn man das Leben nicht mehr als eine Reihe von Problemen betrachten kann, die es zu lösen gilt?
Die Wahrheit ist, dass man sich nicht mehr verstecken kann. Es ist nämlich auch bequem, sagen zu können: Ich bin unglücklich, weil meine Frau mich verlassen hat, genau wie es bequem ist, sich darin einzurichten, dass der Chef ein Idiot ist und man selbst sowieso unterbezahlt. Wenn man es so sieht, hat man keine Verantwortung dafür. Aber wenn man machen kann, was man will, weil alles weitestgehend okay ist, was dann? Wenn man vor seinem Leben sitzt wie vor einem weißen Blatt Papier? Was macht man dann?
Durch ein Zugfenster sieht die Welt aus wie eine Fernsehsendung, und wenn ich versuche, mir die Menschen in all den Häusern vorzustellen in all den Dörfern und Städtchen, deren Namen ich nicht kenne, diese unendliche Menge an Träumen und Plänen, an Tränen und Gelächter, dann explodiert mein Kopf mit Möglichkeiten, und ich weiß nicht mehr, ob ich mich schwer fühle oder leicht, einfach weil ich es mir selbst aussuchen kann. Und das ist das Schwierigste von allem. Und das Schönste. Denn ich bin auf dem Weg und habe das Gefühl: Alles, was ich mache, ist okay, solange ich irgendetwas mache.
Oder sagen wir: Fast alles. Diesen Text wollte ich eigentlich viel früher abgeben. Grund für die Verspätung war eine Verzögerung.