Er ist zwar Schreiber, aber über die Jahre hat sich unser Kolumnist bei den Fotografen einiges abgeschaut: Haltung, Licht, die richtige Inszenierung. Von außen betrachtet kommt man damit ganz schön weit – aber will man da auch hin?
Ich sitze am Bahnhof und warte, und ich versuche, ein Selfie als Erinnerung zu machen. Immer von oben. Das ist die erste Regel: Jeder Mensch sieht besser aus, wenn man ihn ein bisschen von oben fotografiert. Dann hat man ein Kinn statt zwei und wirkt nicht arrogant oder cheesy, jedenfalls nicht aus Versehen.
Ich arbeite als Journalist seit zwanzig Jahren immer wieder mit Porträtfotografen zusammen, und ich würde sagen, es gibt nur drei Regeln, die ich mir wirklich gemerkt habe, nämlich neben der ersten die zweite: "Such dir einen guten Hintergrund." Und die dritte: "Licht von vorne oder von hinten, denn von der Seite werfen die Augenringe Schatten, da sieht kaum jemand gut aus." Lustigerweise lassen sich alle drei Regeln auf alles im Leben anwenden: Von oben betrachtet wirken alle meine Probleme ein bisschen lächerlich, vor allem, wenn sie vor einem schönen Hintergrund spielen. Und warum, zur Hölle, sollte man jemals irgendetwas so beleuchten, dass man die Falten am stärksten sieht?
Ich erzähle das alles, weil ich den Verdacht habe, ich könnte in eine Midlife-Crisis rutschen. Man kann das bei mir nicht unbedingt unterscheiden, glaube ich, weil das nur eine von vielen Krisen ist, immerhin lebe ich in Scheidung, habe zwei Töchter in der Pubertät und arbeite für gedruckte Magazine, da ist die ganze Branche schon seit Jahren in der Krise. Aber wenn ich das richtig verstehe, bedeutet Midlife-Crisis bei Männern vor allem das innere (und manchmal auch äußere) Aufbäumen dagegen, dass ihr Leben nicht so geworden ist, wie sie es sich mit 13 Jahren ausgemalt haben. Bei mir ist es definitiv nicht so geworden. Allerdings ist das weder für mich noch für die Welt ein großer Verlust. Ich war mit 13 nicht so schlau, wie ich dachte. Vielleicht ist das hier einfach nur die Zeit, in der man alle gewonnene Erfahrung nutzt, um die Ziele neu zu justieren?
Dann fährt der Zug ein, und du steigst aus. Und ich sehe dieses Gesicht, das ich von oben und unten und im seitlichen Neonlicht ansehen kann, ohne jemals genug davon zu bekommen. Und dann denke ich, dass die ganze Welt immer 13 sein sollte, oder 16, oder jedenfalls niemals so alt, dass man seine Ziele neu justiert, weil man alles Wichtige schon wusste, damals, es ist nur mit Dringendem zugeschüttet worden, während man nicht aufgepasst hat.
Ich werde das Selfie löschen. Die wichtigen Dinge erinnere ich auch so, und überhaupt: Es wäre immer nur der Blick von schräg oben, vor einem halbwegs neutralen Hintergrund, mit Licht von vorne. Und so ist das Leben nicht, es sieht nur manchmal so aus. Echtes Leben hat Licht von allen Seiten, und das Geheimnis liegt wahrscheinlich darin, mit allen Seiten leben zu können. Oder sogar glücklich zu sein. Wie mit allen Seiten von deinem Lächeln.