Claudia Gersdorf ist Pressesprecherin von Viva con Agua und Coverfrau der Working Women 2018. Als sie zwei Jahre alt war, hieß es, sie würde nie laufen lernen. Hier erzählt sie von ihrem besonderen Karriereweg.
Am Morgen herrscht kurz Stille. Ich liebe diese Ruhe zu Beginn des Tages. Dann fange ich an, mich schnell zu bewegen. Denn Schnelligkeit täuscht über meine grobmotorischen Bewegungen hinweg. Schnell heißt für mich flüssig und weich. Ich sehne mich nach fließenden, wiegenden, einfachen Bewegungen. Von Natur aus habe ich die nicht. Anfangs hat keiner geglaubt, dass ich auch nur laufen lernen würde. Keiner außer meiner Familie.
Claudia Gersdorf - ein schwieriger Start ins Leben
Es ist der 24. Dezember 1982. Der diensthabende Arzt leitet noch eben künstlich die Geburt bei meiner Mutter ein, bevor er zum Weihnachtsfest mit seiner Familie fährt. Deshalb ist niemand da, um mich auf dieser Welt in Empfang zu nehmen. Niemand ist da, um zu verhindern, dass ich 30 Minuten lang ohne Sauerstoff im Geburtskanal feststecke. Meine Eltern nehmen ein allem Anschein nach gesundes Kind mit nach Hause.
Claudia Gersdorf war auch zu Gast im Podcast "Kasia trifft ..." - hört hier das Gespräch!
Wie viel Schaden ich bei meiner Geburt genommen hatte, wurde erst mit der Zeit klar – dank meiner Mutter. Nach etlichen Arztbesuchen und Konsultationen steht endlich eine Diagnose fest, als ich schon zwei Jahre alt bin: infantile Zerebralparese mit Ataxie und Tremor. Mit anderen Worten: Durch Schäden am Kleinhirn sind meine Bewegungen und meine Sprache von Spastiken und Lähmungen betroffen.
Die Prognose war denkbar schlecht: Laut den Ärzten sollte ich nie eigenständig lebensfähig, sondern ein Leben lang auf Assistenz angewiesen sein. Aber meine Familie wollte das so nicht hinnehmen. Meine Mutter legte spontan ihren Beruf als Physiotherapeutin auf Eis und begann, sich rund um die Uhr um meine körperliche Entwicklung zu kümmern. Das hieß für mich: Training, Training, Training. Jeden Tag, egal ob mir danach war oder nicht.
Brutale Übungen
Meine Jugend verteilte sich zu gleichen Teilen auf Schule und Therapie. Wenn der Unterricht gegen 14 Uhr vorbei war, folgte Therapie von 15 bis 19 Uhr: Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie, Moorpackungen, Pferdetherapie. In den Sommerferien fuhr ich nicht nach Italien, sondern zur sechswöchigen Reha. Aber nur so konnte mein Großhirn all das lernen, was mein Kleinhirn nicht schafft – eine Grundregel, die mir meine Großmutter regelmäßig ans Herz legte. Nur so konnte ich beweisen, dass die Ärzte sich geirrt haben. Ich wollte es der Welt beweisen. Ich wollte UNO-Generalsekretärin werden. Mehr als einmal prophezeite ich meinen Klassenkameraden: „Ihr werdet schon sehen. Ich werde an der Sorbonne in Paris studieren. Irgendwann werdet ihr mich in der Tagesschau sehen und wie ich mit meinem Freund ein paar Runden in der Stadt drehe.“ Neben all den Schmerzen und dem Unverständnis, das ich damals erfuhr, war ich vor allem trotzig und stolz. Ob daher mein Durchhaltevermögen kommt? Vielleicht.
Eine der schmerzhaftesten Erinnerungen ist die tägliche Dehnarbeit an meinen Füßen.
Claudia Gersdorf, Pressesprecherin Viva con AguaTweet
Denn mein Training war brutal. Eine der schmerzhaftesten Erinnerungen meiner Kindheit ist die tägliche Dehnarbeit an meinen Beinen und Füßen. Bei Körperbehinderungen wie meiner nutzt man die Kindheit, um den Körper im wahrsten Sinne des Wortes geradezubiegen. Allein das ermöglicht dem Bewegungsapparat zu funktionieren und vor allem nachhaltig Schmerzen und schlimmeren Schäden vorzubeugen. Der Physiotherapeut setzt dabei sein ganzes Körpergewicht ein, um Knochen, Gelenke und Gewebe zu öffnen. Ich habe nie geweint – vielleicht aus Trotz, vielleicht aus Stolz, vielleicht für meine Familie. „Claudia, Fuß abrollen, Ferse, Spitze, auftreten, nimm dir Zeit, Bauch einziehen, Brust raus.“ So lagen sie mir ständig in den Ohren. Nur, weil sie nie lockergelassen haben, kann ich heute laufen. Und weil sie nie lockergelassen haben, habe ich gelernt, das auch nicht zu tun.
Gemobbt und ausgegrenzt
Dabei hätte es genug Gründe gegeben, alles hinzuschmeißen. „Das ist eine Behinderte. Ihr Name ist Claudia.“ So stellte mich der Direktor des Gymnasiums meiner neuen Klasse vor. Jeder kann sich vorstellen, wie die darauf reagiert hat: mit Irritation, Ablehnung, Hänselei. Ich wurde gemobbt und ausgegrenzt. Denn ich war nicht nur Claudia, die Behinderte, ich war auch noch Klassenbeste. Ich biss mich bis zum Abitur durch – einmal quer durch all die Wut und Trauer. Warum mochten die mich nicht? Meine Familie kämpfte für mich mit, stärkte mir den Rücken, moralisch und buchstäblich. Rückblickend und schon im Berufsleben angekommen, habe ich mich als ihr "Entwicklungsprojekt" bezeichnet – mit einem weinenden und einem lachenden Auge.
An der Uni änderte sich viel für mich. Hier schienen mein Tremor und mein besonderes Gangbild keine Rolle zu spielen. Ich schloss echte, gute Freundschaften, ich war viel unterwegs, ich engagierte mich, gründete Vereine für Toleranz und Weltoffenheit, ging auf Demos und setzte mich gegen Rassismus und für Frauenrechte ein. Ich studierte Politikwissenschaften und Romanistik, erst in Dresden, dann – wie ich es mir immer gewünscht hatte – an der Pariser Sorbonne. Eine Körperbehinderung zu haben schien dort kein Makel zu sein, rief keine Irritation hervor, sondern gehörte zum normalen Alltag.
"Ich liebe die Bühne!"
Erst, als ich in Heidelberg mein Studium zur Dolmetscherin begann, bekam ich wieder Gegenwind: „Claudia, geh mal lieber und werde UNO-Generalsekretärin, anstatt hier Berlusconi neu zu interpretieren und dabei so zu zittern“, sagte mein Dozent. Ein Dolmetscher hat eben unauffällig zu sein und ja nicht im Vordergrund zu stehen.
Aber im Hintergrund zu stehen, das liegt mir nicht. Ich liebe die Bühne, und ich habe viel zu sagen. Ich habe meinen eigenen Kopf, ich habe viel Energie, und ich habe es satt, dass mir Dinge versagt werden, weil ich anders bin. Es ist eine enorme Diskrepanz: sich gleichzeitig danach zu sehnen, gesehen zu werden, und danach, nicht unangenehm aufzufallen. Aber ich trage beides immer in mir.
Ich mag es, Frauen zuzusehen, die sich leichtfüßig auf High Heels fortbewegen. In einem meiner wiederkehrenden Tagträume laufe ich auf High Heels durch Hamburg. Stolz, groß und mit einem klaren Ziel vor Augen. Meine Bewegungen sind fließend, fast, als ob ich tanzte. Deshalb liebe ich das Wasser. Ich schwimme gern, tauche. Als Kind stellte ich mir vor, eine Meerjungfrau zu sein. Denn im Wasser bin ich wie alle anderen. Im Wasser kann ich schweben und tanzen wie eine Ballerina, ich bin geschmeidig wie eine Meerjungfrau. Keiner sieht, dass mein Gehirn und mein Körper ihren Job nicht einwandfrei machen. Und ich spüre es nicht. Danke, Opa und Papa, Mama und Oma, dass ihr ganz selbstverständlich einen Pool und eine Sauna für mich gebaut habt und mir als eines der ersten Dinge im Leben das Schwimmen beigebracht habt.
Als ich nach meinen Studien die ersten Bewerbungen schrieb, bekam ich viele Absagen. Bei Ärzte ohne Grenzen habe ich mich viermal beworben. Ich konnte es nicht fassen, dass ich nicht ein einziges Mal zum Gespräch geladen wurde.
Ziel: Pressesprecherin für Menschenrechte werden
Kurz entschlossen bin ich ins Berliner Büro der NGO gefahren und habe ein Gespräch verlangt. War das mutig? Größenwahnsinnig? Es war richtig. Nachdem ich einem Kampagnenleiter und schließich auch noch dem Geschäftsführer erklärt hatte, dass ich mit meinem Lebenslauf geradezu prädestiniert für Ärzte ohne Grenzen war, wurde ich zum Probearbeiten eingeladen. Ich arbeitete erst ehrenamtlich und wurde schließlich ins Event-Team aufgenommen – ganz nah dran an der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Spätestens hier habe ich den Traum von der UNO an den Nagel gehängt. Ich hatte ein neues Ziel: Pressesprecherin für Menschenrechte werden.
Im Laufe des Tages wird es lauter um mich herum. Ich bleibe schnell. Mit derselben Geschwindigkeit, in der ich mich bewege, denke ich auch, arbeite ich auch. Ich fange an zu tanzen, zu lachen und begegne fragenden, verunsicherten Blicken von Fremden mit offensivem Amusement. Ich bin laut, und ich bin ehrgeizig.
Im Hintergrund zu stehen, das liegt mir nicht. Ich liebe die Bühne, ich habe viel zu sagen.
Claudia Gersdorf, Pressesprecherin Viva con AguaTweet
Bei Ärzte ohne Grenzen hieß es, für die Presseabteilung sei ich zu unerfahren. Ich wechselte zu Oxfam und begann auch dort als Assistenz. Ich habe hart gearbeitet, um meinem Ziel näherzukommen. Ich habe den Betriebsrat mitgegründet und institutionelles Fundraising betrieben, obwohl es nicht zu meinen Aufgaben gehörte. Wen ich jetzt zurückdenke, habe ich permanent meine Kompetenzen überschritten. Diese Zielstrebigkeit kam nicht bei allen Kollegen gut an. Es ist ein Motor, der mich seit meiner Kindheit antreibt, dieses: "Ihr werdet schon sehen!" Ich glaube, besser sein zu müssen als andere, um gesehen zu werden. Ich glaube, härter arbeiten zu müssen, um es allen zu beweisen. Mittlerweile nicht mehr nur den Ärzten, die mir kein selbstständiges Leben zubilligen wollten, und den Mitschülern, die mich auf dem Schulhof auslachten, sondern auch dem Agenturchef, der sagte, ich könne meinen Job bei ihm nicht ausüben, weil ich mit einem Sektglas in zitternden Händen kein repräsentatives Bild abgeben würde.
Claudia Gersdorf ist seit 2014 Bereichsleiterin für Unternehmenskommunikation, Public Relations Managerin und Pressesprecherin bei Viva con Agua. Sie studierte Politikwissenschaften, Internationale Beziehungen und Romanistik in Dresden, Paris und Berlin. Später schloss sie das berufsbegleitende Kompaktstudium "PR-Kommunikationsmanagement" an der DEPAK in Berlin ab.
Gehört werden
Ich wollte ganz hoch hinaus. Zugleich ging ich lange mit dem bedrückenden Gefühl durch die Welt, dass dieser Arzt an allem Schuld ist. „Meine Behinderung hätte nicht sein müssen. Dieser Scheißarzt. Wenn er nicht gewesen wäre …“ Ich trug das Bewusstsein in mir, dass mir Unrecht widerfahren ist, ich ein Opfer meiner Umstände bin. Irgendwie glitt mir dadurch alles aus der Hand. Ich eckte an, ich kam nicht vorwärts – klassischer Fall von selbsterfüllender Prophezeiung. So habe ich schließlich nicht nur Physio-, sondern auch eine Psychotherapie gemacht. Spät im Leben, mitten auf der Karriereleiter. Schritt für Schritt habe ich den Teufelskreis durchbrochen. Seitdem habe ich wieder mehr das Gefühl zu schwimmen, nicht nur Wasser zu treten. Von meiner individuellen Situation mal abgesehen – ich glaube, ich habe mit denselben Herausforderungen gekämpft, die jede Frau im Job erlebt: mit Konkurrenzkämpfen, mit chauvinistischen Chefinnen und Chefs und mit allzu traditionellen Strukturen. Ich habe mich lange "zum Mann" gemacht, um stark zu wirken. Ich war laut, um gehört zu werden. Und ich hatte immer furchtbare Angst davor, "arbeitsuchend" zu sein, ohne Aufgabe und Anerkennung dazustehen.
Wenn ich mich wohlfühle, entspanne ich mich. Wenn ich entspannt bin, vergesse ich meinen Tremor.
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Ich blieb den Entwicklungsprojekten treu und baute freiberuflich den Verein "Pen Paper Peace" mit auf, der Schulen auf Haiti baut und unterstützt. Wieder machte ich von allem etwas, mischte überall mit und fuhr auch nach Haiti. So hörte Benjamin Adrion von mir. Er ist der Initiator der internationalen All-Profit-Organisation Viva con Agua in Hamburg. Erst rief er mich an: „Hey, ich habe von deiner Arbeit gehört. Ich würde dich gern kennenlernen.“ Nach unserem ersten Treffen ergänzte er spontan: „Natürlich wirst du unsere Pressesprecherin. Wieso denn nicht?“ Er war seit meinem Vater der erste Mensch, der mir glaubhaft versichert hat, dass mein Talent und nicht mein Körper über meine Fähigkeiten entscheidet.
Endlich sein, wie ich bin
Ich bin jetzt seit vier Jahren Pressesprecherin. Ich habe keine Patentlösung für eine Karriere mit Behinderung. Ich weiß nur so viel: Bei Viva con Agua mache ich genau das, was ich gut kann. Mein Umfeld erlaubt mir, mich hier zu entfalten als die Person, die ich bin. Und wenn ich mich wohlfühle, entspanne ich mich. Wenn ich entspannt bin, vergesse ich meinen Tremor und die Spastik, kann ich mich ganz aufs Laufen konzentrieren. Und wenn ich die Behinderung vergesse, versuche ich nicht, sie zu übersteuern. So wird sie weniger. Dann kommt die Ruhe zurück. Der Tag wird kommen, an dem ich mit High Heels durch Hamburg laufe. Und dann steige ich in diesen High Heels auf eine Bühne, um dem Publikum wie immer zu sagen: "Mein Körper macht seit meiner Geburt, was er will. Achten sie nicht auf mein Äußeres. Hören Sie nur auf meine Stimme." Denn was wirklich zählt, ist das, was ich zu sagen habe. Wenn ich mich wohlfühle, entspanne ich mich. Wenn ich entspannt bin, vergesse ich meinen Tremor.