Vor knapp einem Jahr kehrte Meşale Tolu nach monatelanger Haft in der Türkei in ihre deutsche Heimat zurück. Jetzt ist ihr Buch erschienen.
Meşale Tolu gewann für ihre journalistische Arbeit den EMOTION.award 2018 in der Kategorie "Frau der Stunde". Wir haben die Journalistin jetzt zum Interview getroffen und mit ihr über ihr neues Buch gesprochen, wie es ihr und ihrem Sohn heute geht und wie die Zeit im Gefängnis sie verändert hat.
EMOTION: Meşale Tolu, was hat dich dazu bewegt, deine Geschichte aufzuschreiben?
Meşale Tolu: Ich wollte meine ganze Geschichte darstellen. Nicht nur diese Bruchteile, die man aus der Presse kennt, sondern alle Seiten, alle Facetten. Nach meiner Rückreise nach Deutschland wurde oft über mich gesagt, dass ich sehr mutig und stark sei, dass ich mich nicht habe brechen lassen. Das war zwar richtig, aber ich hatte über die Zeit hinweg oft Angst und ich habe viel erlebt, was mich hat verzweifeln lassen. Ich hatte schwache Momente. Und ich fand es wichtig, dass die Leser erfahren, was ich wirklich durchgemacht habe, wann ich Angst hatte, was meine Schwächen waren – aber auch, dass man diese Schwächen in Stärke umwandeln und aus Angst Mut wachsen kann. Vielleicht braucht man dafür auch Unterstützung oder Solidarität. Aber alles kann besser werden, wenn man nur daran glaubt.
Was hat dir der Schreibprozess bedeutet? War es deine Art, alles zu verarbeiten?
Absolut. Meine Art zu verarbeiten war von Anfang an, dass ich offen darüber gesprochen habe. Weil ich im Gefängnis gemerkt habe, dass man viel besser mit der Situation klarkommen kann, wenn man darüber spricht. In den ersten Wochen war es sehr schwer, weil ich mich nicht getraut habe, offen zu sein. Sobald ich angefangen habe, darüber zu reden, war alles viel einfacher. Das Buch war dann der nächste Schritt. Ich wollte auch anderen Hoffnung geben und Mut machen.
Denkst du heute noch viel über die Zeit in der Haft nach?
Immer wenn ich mich damit auseinandersetze oder wenn ich auf Lesungen gehe, merke ich, wie tief das sitzt. Ich merke, dass alles, worüber ich so locker reden kann, doch noch als großer Brocken in mir steckt. Ich denke also schon an diese Zeit zurück. Aber ich versuche, ein ganz normales Leben zu führen, und möchte mich nicht von den Erlebnissen aufhalten lassen.
Verfolgst du die türkische Politik und die Entwicklungen der Prozesse momentan oder wird es dir manchmal zu viel?
Ich verfolge alles sehr aufmerksam. Zwar äußere ich mich nicht zu allem – das möchte ich einfach nicht, das wird mir manchmal zu viel – aber ich beobachte die Entwicklungen. Manchmal bewegen sie mich sehr, nehmen mich emotional sehr mit. Wenn eine Razzia stattgefunden hat oder wenn viele Menschen festgenommen wurden, bin ich wieder mittendrin. Aber ich muss mich nicht davor abschotten.
Wie geht es deinem Sohn heute? An wie viel kann er sich erinnern?
Er erinnert sich kaum an die Zeit im Gefängnis. Es geht ihm gut. Es kann auch sein, dass er einiges unterdrückt, aber es gibt keine Symptome mehr, die auf diese Zeit zurückweisen. Wir haben versucht, die Geschehnisse gemeinsam zu verarbeiten. Von Anfang an habe ich offen mit ihm darüber geredet. Manchmal erinnert er sich plötzlich an etwas, hört ein Lied oder sieht einen Gegenstand. Dann beantworte ich all seine Fragen. Einige Verhaltensweisen, die er sich dort angewöhnt hat, hat er immer noch. Er weiß nur nicht mehr, woher sie kommen.
Du hast gesagt, die Zeit im Gefängnis habe dich gestärkt. Wie prägt diese Erfahrung dich heute?
Früher war ich ruhiger, habe mich nicht in die Angelegenheiten anderer eingemischt, mich zurückgehalten, nicht oft Widerstand geleistet. Heute bin ich extrovertierter und mutiger. Ich mische mit und wenn ich finde, dass etwas nicht in Ordnung ist, äußere ich das auch. Die Erfahrung hat definitiv viel mit mir gemacht. Auch in meinem Buch beschreibe ich, dass ich nicht mehr die Frau bin, die ich damals war. Vor allem deshalb nicht, weil mir meine Unbekümmertheit genommen wurde. Ich bin viel aufmerksamer geworden, habe stets gespitzte Ohren und ein Auge für viele Dinge. Natürlich bin ich noch dieselbe Meşale, aber gleichzeitig eine Frau mit neuen Erfahrungen. Darunter sind viele schlechte, aber auch positive. Sie lasten auf mir und werden wohl nicht so schnell verschwinden. Meine inneren Wunden werden sicher irgendwann verheilen, die Narben werden bleiben.
Meine inneren Wunden werden sicher irgendwann verheilen, die Narben werden bleiben.
Meşale ToluTweet
Hast du noch Kontakt zu den anderen Frauen?
Ja, ich habe Briefkontakt, alles andere ist verboten. Aber diesen Austausch versuche ich auf jeden Fall zu halten.
Als wir im vergangenen Herbst mit dir gesprochen haben, hast du den Wunsch geäußert, dass dieses Thema immer wieder aufgegriffen wird und die Menschen aktiv bleiben. Wie setzt du dich auch jetzt noch für die Demokratie ein?
Ich schreibe gelegentlich für verschiedene Medien über Themen, die die Türkei betreffen, weil ich mir auf diese Weise Gehör verschaffen kann. Daneben setze ich mich für Menschenrechtsverbände ein. Innerhalb meiner Möglichkeiten weise ich auf diese Themen hin – ob ich das nun mit einem Tweet oder einem Artikel mache. Ich gehe auf Vorträge und berichte von den Umständen. Ich versuche, alle Möglichkeiten, die mir hier in Deutschland gegeben sind, auszuschöpfen, um dieses Thema nicht aus den Köpfen der Menschen verschwinden zu lassen.
Du sagtest, jede Ein- und Ausreise errege Aufmerksamkeit. Wirst du dich noch einmal trauen, in die Türkei zu reisen?
Ich habe nie gesagt, dass ich nie wieder hinfahren würde, und das sage ich auch heute nicht. Momentan ist das Risiko aufgrund meines Buches vielleicht etwas höher. Es kann sein, dass sich jemand von dem, was ich geschrieben habe, angegriffen fühlt. Ich bespreche immer alles mit meiner Familie und meinen Anwälten, es ist aber nicht nötig, dass ich vor Ort bin. Rechtlich gibt es keine Anwesenheitspflicht bei den Verfahren, daher riskiere ich im Moment nichts. Und jetzt habe ich wieder angefangen zu arbeiten, sodass ich nicht mehr so einfach hin- und herfliegen kann.
Dein Prozess wurde auf Oktober vertagt und so nun auch der Prozess von Deniz Yücel – alles Strategien der türkischen Regierung?
Jede Vertagung ist eine Taktik, um das Interesse wieder abzuschwächen. Momentan sind die Gerichtsverhandlungen gut besucht von Beobachtern aus Deutschland. Die Abgeordneten Margit Stumpp und Heike Hänsel sind oft dort, um meinen Prozess zu verfolgen. Auch das Konsulat und die Botschaft sind beteiligt. Sobald aber kein Interesse mehr besteht, können die Richter eine Haftstrafe aussprechen, wie wir es in vielen Fällen erlebt haben. Es gibt ganz viele Journalisten, die zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt wurden, während die Augen auf andere Dinge gerichtet waren. In der Türkei ist es üblich, dass man zum Beispiel jemanden freilässt und gleichzeitig drei andere zu lebenslänglicher Haft verurteilt.
Jede Vertagung ist eine Taktik, um das Interesse wieder abzuschwächen.
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In den vergangenen Tagen und Wochen gab es einige Entwicklungen. Das türkische Verfassungsgericht hat zugegeben, dass Yücels Prozess rechtswidrig abgelaufen ist, der türkische Journalist Erol Önderoglu wurde freigesprochen. Geben dir solche Nachrichten wieder etwas Hoffnung für die Pressefreiheit?
Nein, das bedeutet gar nichts. Das heißt ja nicht, dass das Hauptverfahren vorbei ist. Auch das ist Strategie: einen hinzuhalten. Man erteilt ein grünes Signal, nur um später ein umso stärkeres rotes zu zeigen. Ich kenne die Lage und weiß, wie repressiv der Staat gegen Kritiker vorgeht. Es ist eine Andeutung von Milde, die auf mich aber immer mehr wirkt wie die Ruhe vor dem Sturm. Deshalb konzentriere ich mich kaum auf solche Dinge, sie sind unwesentlich.
Und wie ist das mit dem Wahlsieg Imamoglus in Istanbul?
Das ist etwas anderes, weil die Menschen mitbestimmen. Es gibt in der Türkei eine Alleinherrschaft. Und dennoch haben sich die Bürger getraut, für eine Veränderung zu stimmen. Das ist ein Anfang und es ist eine moralische Überlegenheit. Es gibt mir Hoffnung, weil nun andere nachziehen können. Jetzt ist die Chance für andere Städte zu sagen, wir wollen auch eine andere Regierung, ein anderes Herrschaftssystem. Was mich hoffen lässt, ist nicht das, was in einzelnen Städten passiert, sondern dass sich die Menschen plötzlich umentscheiden und das auch aussprechen. Auch zweimal! Dass sie sagen: 'Wir wollen die AKP nicht!' – das ist schon ein starkes Signal. Und es kann ein Anstoß sein. Es kann sein, dass in den nächsten Jahren alles wie Dominosteine fällt, aber das Land befindet sich noch immer in einem Präsidialsystem. Man sollte es nüchtern betrachten und nicht zu früh jubeln.